Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann hat den Nerv vieler Deutscher getroffen. Sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ steht auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste und wird in den deutschen Medien hoch- und runterbesprochen.

Oschmann, gebürtiger Gothaer, spricht darin ein Thema an, das sich über die Jahrzehnte schon verfestigt zu haben schien: Der Westen dominiert das Denken über den Osten und schiebt ihm damit alle möglichen Zuschreibungen zu. Damit soll’s genug sein, fordert Oschmann.

Ein Interview, nicht nur über das Buch, sondern auch über die Frage einer „Ostquote“ und warum der Begriff „Wiedervereinigung“ definitiv ein falscher ist.

Herr Oschmann, Ihr Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wurde innerhalb von zwei Monaten bereits in fünf Auflagen gedruckt, was bei dem heutigen Buchmarkt eher selten vorkommt. Sie selbst waren sehr präsent in den Medien. Wie nehmen Sie diese Zeit wahr?

Es ist mittlerweile sogar die 10. Auflage und ich bin selbst überrascht über die große Nachfrage. Es ist viel los, ich bin viel unterwegs.

Eigentlich sind Sie ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Wie takten Sie all diese Termine in ihren Alltag ein?

Bis letzte Woche war für mich ja noch Semesterpause. Das war die einzige Möglichkeit, es zu schaffen, sonst wäre das gar nicht gegangen. Nun haben die Lehrveranstaltungen begonnen, damit gehen Dinge langsamer, ich muss manches aufschieben, manches absagen. Ich hätte das Pensum sonst nicht bewältigen können.

Bis Mitte Juli habe ich jede Woche zwei, drei Termine im Zusammenhang mit dem Buch: Lesungen, Podiumsdiskussionen, Interviews. Ich hoffe, dass ich die Kraft habe, das durchzuziehen. Ich bin mit der Professur eigentlich voll ausgelastet, und es ist derzeit nicht so schön für die Familie, insbesondere für meine zwei Kinder.

Welche Reaktionen haben Sie bisher bei Lesungen erfahren?

Schön war erst mal, dass die Lesungen in Berlin, Magdeburg und Leipzig ausverkauft waren. In Magdeburg gab es eine größere Diskussionsrunde, wo eine Reihe von Leuten zuerst aus ihrer eigenen Vergangenheit berichtet haben, bevor sie mich etwas gefragt haben. Geschichten, die sonst nicht thematisiert wurden und die sie nun thematisieren, weil sie durch mein Buch offenbar dazu ermutigt worden sind.

In Leipzig gab es dagegen kurze, knappe, zielgerichtete Fragen, zum Beispiel im Blick darauf, ob anderswo in der Welt ähnliche Asymmetrien zu beobachten seien. Ich verwies hier auf die interessante Information einer Doktorandin im Fach Anthropologie, dass das Verhältnis der Dänen zu den Grönländern ähnlich gelagert sei wie das deutsch-deutsche Verhältnis.

Und ein irischer Journalist hatte mich kürzlich auf das Verhältnis der Iren zu den Engländern aufmerksam gemacht. Dieses steht unter dem Motto: Wir wissen alles über sie, aber sie nichts über uns – seit 300 Jahren. Manche Passagen meines Buches wurden von den Zuhörern im Detail kritisiert, trotz großer Zustimmung im Ganzen; eine Position habe ich beispielsweise auch inzwischen revidiert.

Welche ist das?

Vor der Publikation des Buches habe ich eine „Ostquote“ abgelehnt. Mittlerweile würde ich für eine „Ostquote“ in Führungsebenen plädieren, denn eine zeitnahe Verbesserung auf diesem Gebiet kann es nur auf diesem radikalen Weg geben.

Könnten Sie Ihr Buch kurz für alle die, die es noch nicht gelesen haben, thesenartig zusammenfassen?

Zur Vorgeschichte der Buchentstehung muss ich Folgendes vorausschicken: Rund um das Jubiläum 30 Jahre Wiedervereinigung gab es eine Reihe von Veranstaltungen, zu denen ich eingeladen war, als jemand, der in der Zeit 1989/1990 studiert hat. Da ging es auch um mich als Zeitzeugen und als jemanden, der die gegenwärtige Situation betrachten soll.

In dieser Zeit sollte ich auch einen Vortrag über das Thema „Wie der Osten die Gesellschaft spaltet“ halten, und das fand ich ungeheuerlich. Ich habe es dann umgedreht und beschrieben, wie der Westen den Osten seit über 30 Jahren ausschließt und diskreditiert. Ich wurde nach dem Vortrag unter anderem vom Schriftsteller Ingo Schulze gebeten, das Manuskript zu veröffentlichen.

Als nach der Bundestagswahl 2021 die neue Bundesregierung erneut einen Ostbeauftragten eingesetzt hat, war dies für mich der Grund, diesen Text in der FAZ veröffentlichen zu lassen. Daraufhin gab es Reaktionen, die mich dazu brachten, ein Buch zu schreiben.

Ein Buch, das es in sich hat …

Ich wollte keins der üblichen Bücher darüber schreiben, wie schlimm im Osten alles ist. Denn nicht der Osten ist mein Thema, sondern, und das ist entscheidend, der Westen. Es geht mir dabei um Gründe für den eklatanten Mangel an Repräsentation des Ostens in gesellschaftlichen Teilbereichen. Dieses Problem betrifft rund 17 Millionen Ostdeutsche, das sind etwa 18 bis 19 Prozent der deutschen Gesamtgesellschaft.

Aber die Anteile in den Führungsebenen liegen, abgesehen von der Politik, bei nur zwei bis vier Prozent. Gleichzeitig wird dem Osten stets Demokratieskepsis vorgeworfen, aber das hat damit zu tun, dass er keine oder viel zu wenig Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in dieser Demokratie hat. Was soll man von einer Demokratie halten, an der man nicht hinreichend beteiligt wird?

Außerdem geht es mir in meinem Buch darum zu zeigen, dass der Westen lediglich denkt zu wissen, wie der Osten sei. Der Westen tritt dem Osten immer wie eine Art Erziehungsberechtigter entgegen, paternalistisch, wie in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Der Osten hat über 30 Jahre erzählt bekommen, er sei nichts wert, er sei verhaltensauffällig und unnormal. Man stelle sich das mal mit einem einzelnen Menschen vor, zum Beispiel mit einem Kind, dem man dies immer wieder und wieder sagt, und überlege, welche Art von Widerstand dieses Kind dann wohl zu Hause leisten wird beziehungsweise welches Verhalten es an den Tag legen wird.

Außerdem erläutere ich die vielfachen ökonomischen Ungleichheiten, wie die Verteilung von Erbschaften und Vermögen. Zudem sind die Gehälter im Osten im Schnitt 22,5 Prozent geringer als im Westen, in der Auto- und in der IT-Branche sogar 40 Prozent geringer, in der Textilbranche gar 69 Prozent, gleichzeitig fordert der Westen, dass sich der Osten „normalisieren“ soll. – Was für ein Zynismus!

Im Übrigen, das möchte ich betonen, gibt es nichts Neues in meinem Buch. Es ist über die Jahre hinweg alles schon gesagt worden, viel genauer, viel besser recherchiert. Ich habe nur die Zahlen und Fakten in andere Kontexte eingerückt und einen schärferen Ton angeschlagen, und dieser Ton scheint einen Nerv getroffen zu haben.

Sie schreiben in Ihrem Buch, der gesamte semantische Raum mit „Ost-“, also Wörter wie „ostdeutsch“ sind verseucht. Wie sehen Sie die Worte Einheit und Wiedervereinigung?

Die Einheit ist politisch vollzogen, ganz klar. Sozial und diskursiv ist sie nicht vollzogen, denn es gibt das beschriebene ungeheuerliche Macht-, Diskurs- und Finanzgefälle. Insofern ist die Einheit eine fragile Einheit. Es gibt ganz viele Statistiken, die sich in Karten darstellen lassen, und dann erkennt man den Unterschied zwischen Ost und West besonders deutlich.

Eine Wiedervereinigung ist es zudem nicht mal politisch terminologisch gewesen, sondern laut Paragraph 23 Grundgesetz ein „Beitritt“. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen. Das westdeutsche Narrativ lautet: „Ihr habt es so gewollt, also meckert nicht.“

Wiedervereinigung hätte ja eigentlich laut Grundgesetz geheißen, dass es unter anderem eine neue Verfassung hätte geben müssen. Nun war es aber so, dass der Westen nicht nur gedacht hat, er muss sich gar nicht ändern, sondern auch, der Osten muss aufholen und so werden wie der Westen. Gleichzeitig hindert er den Osten seit über 30 Jahren gezielt daran, Westen zu werden, indem er ihm die politischen, ökonomischen, kulturellen und symbolischen Mitgestaltungsmöglichkeiten in dieser Demokratie weithin verweigert.

Der Westen hat im Blick auf den Osten viele Vorurteile über den Kalten Krieg hinweg aufrechterhalten; ein schlagender Beweis sind die jetzt bekannt gewordenen menschenverachtenden Äußerungen von Matthias Döpfner, der zu den mächtigsten Medienleuten des Landes überhaupt gehört.

Teil II des Interviews lesen Sie morgen an gleicher Stelle …

Bestseller-Autor Dirk Oschmann im Interview (II): „Westdeutsche Politik-Journalisten nannten Höcke einen ‚Faschisten aus Thüringen‘“

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Es gibt 2 Kommentare

Ein gewisser Karl Schumacher hatte die Großveranstaltungen der CDU (West) in der gerade noch existierenden DDR im Auftrag von Helmut Kohl manipuliert. Der Journalist Otto Köhler hatte schon vor mehr als 10 Jahren darüber berichtet https://www.telepolis.de/features/Die-grosse-Enteignung-3503549.html

Mit der gedrechselten Parole “Kommt die DM-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr” konnte genügend Stimmung gemacht werden. Recht bald glaubten die DDR-Leute diese Parole, die ihnen eingeredet worden war.

So wichtig das Thema ist und so richtig, dass es in griffiger Form dargereicht wird: es irritiert mich, wenn wie in der letzten Antwort des Autors historische Fakten zum „Narrativ“, also zur sinnstiftenden Erzählung mit bisweilen zweifelhaftem Wahrheitsgehalt umgedeutet werden, weil es dem eigenen Narrativ dienlich ist. Die Volkskammerwahl vom 18.03.1990 und ihr Ergebnis ist so ein Fakt. Das von der Blockpartei-CDU dominierte Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“, das unter der Anleitung der West-CDU einen schnellen Beitritt anstrebte hat diese Wahl gewonnen. Andere Gruppen, die sich für einen weniger abrupten und weniger vereinnahmenden Einigungsprozess einsetzen wollten, erhielten eine deutliche Abfuhr. Das ist in der Darstellung verkürzt, aber letztlich die Quintessenz dieser Wahl und die demokratische Legitimation des „Beitritts“, den die Gewählten so vollzogen haben. Das Votum der Wähler im Nachhinein als Narrativ des alten Westdeutschlands („Ihr habt es so gewollt, … „) hinzustellen, halte ich für inhaltlich schwach und für ausgesprochen polemisch. Ob das hilft?

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