Kirche hat es schwer in diesen Zeiten. Immer mehr (Noch-)Kirchenmitglieder fragen sich: Warum weiter dieser Institution angehรถren? Warum nicht austreten? Kann ich meinen Glauben nicht auch auรerhalb der Institution leben?
Derzeit vermag Kirche kaum, die Menschen, die sie zu verlassen beabsichtigen, von diesem Schritt abzuhalten. Zu ideenlos, zu erschlafft erscheint eine Institution, die in ihren Fรผhrungsetagen wie erstarrt die Augen vor dem eigenen Niedergang verschlieรt. Dabei ist all das, was Kirche verkรถrpern sollte, nรคmlich die biblische Botschaft, voll von Zusagen und Verheiรungen, nach denen sich Menschen sehnen โ gerade im neuen Jahr.
Am Neujahrstag wird in den Gottesdiensten eine programmatische Rede Jesu aus dem Lukasevangelium bedacht. Da zitiert Jesus aus dem Prophetenbuch des Jesaja und bezieht die Verheiรungen auf sich:
โDie Zeit ist gekommen, und der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesalbt, ich bin Kรถnig, von ihm gesandt, um den Armen zu verheiรen: Ihr seid erlรถst; gesandt, um die Gefangenen loszusprechen: โGeht! Ihr seid freiโ; gesandt, die Blinden sehend zu machen und die Schmerzen der Gefolterten zu heilen; denn die Kerker sind zersprengt. Ich bin gesandt von IHM, um aller Welt zuzurufen: โSeht doch! Das Jahr des Herrn, die Friedenszeit ist gekommen.โโ (Die Bibel: Lukas 4,18-19)
Das also soll Thema, Programm von Kirche sein: Solidaritรคt mit den Armen, den Entrechteten, den Menschen, die in sich gefangen sind. Ihnen gilt die Zusage Jesu: Eure Befreiung steht genauso bevor wie der Frieden. Jesus hat es bekanntlich nicht bei Worten belassen. Er hat sein Wirken auf die benachteiligten Menschen ausgerichtet, sie geheilt, gewรผrdigt, befreit und so Bedingungen fรผr ein friedliches Miteinander geschaffen.
Jesus hat damit die grundlegende Botschaft der Bibel mit Leben erfรผllt: dass jeder Mensch ein Geschรถpf Gottes ist. Allein darum verbietet es sich, dass Menschen organisiert andere Menschen, Nationen und Vรถlker auszuschalten oder sich รผber sie zu erheben versuchen โ Quelle von Unterdrรผckung, Gewalt, Krieg. In unzรคhligen Variationen wird dieser Glaubensgrundsatz in der Bibel wiederholt โ nicht zuletzt deshalb, weil wir Menschen immer wieder davon abweichen.
Auch die Jahreslosung 2023 ist eine solche Variation. Sie ist dem ersten Buch der Bibel entnommen:
Du bist ein Gott, der mich sieht. (Die Bibel: 1. Mose 16,13)
Dies ruft eine Frau mit Namen Hagar aus. Sie war rechtlose Magd/Sklavin vom sog. Urvater des Glaubens Abraham und seiner Frau Sara. Die waren schon ziemlich alt, sehnten sich aber nach einem Kind. In ihrer Verzweiflung bittet Sara ihren Mann, ein Kind mit der Hagar zu zeugen. Das geschieht und Hagar wird schwanger. Das fรผhrt zwischen den beiden Frauen zu gegenseitiger Verachtung.
Hagar entschlieรt sich, Abraham und Sara zu verlassen. Sie flieht. Auf ihrem ziellosen Weg durch die Wรผste gelangt sie an eine Wasserquelle. Dort erscheint ihr ein Engel. Dieser rรคt ihr, zu Abraham und Sara zurรผckzukehren. Gleichzeitig verheiรt er ihr zahlreiche Nachkommenschaft. Fรผr Hagar, die sich als Frau und Mensch gewรผrdigt sieht, ist das Anlass, Gott direkt anzusprechen: โDu bist ein Gott, der mich siehtโ.
Hagar steht fรผr Menschen, die nichts gelten, die immer zu Diensten sein, immer nur funktionieren sollen. Hagar kann und will das nicht lรคnger ertragen. Sie flรผchtet aus fรผr sie unertrรคglich gewordenen Bedingungen des Lebens โ und wird in ihrer Verlorenheit von Gott aufgesucht und gesehen. Dieses Gesehenwerden, dieses Nichtabgeschriebenwerden verleiht ihr die Kraft, ihr Leben neu anzunehmen und im aufrechten Gang zu Abraham und Sara zurรผckzukehren.
Die Jahreslosung will uns dazu ermutigen, zu sehenden Menschen zu werden, mit mehr Aufmerksamkeit durch die Straรen zu gehen, weniger sichtbare (also aufโs รuรere bedacht zu sein), als vielmehr sehende, geistesgegenwรคrtige Kirche zu werden.
Wenn wir die Not von Menschen nicht รผbersehen, wenn wir jeden Menschen als Geschรถpf Gottes wรผrdigen anstatt ihn abzuschreiben, dann werden diese so reagieren wie Hagar. Sie werden sich aufrichten und uns auf Augenhรถhe zu verstehen geben: Du bist auch einer von denen, die mich gesehen, die mich nicht รผbersehen haben.
Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher
Wie richtig am Anfang formuliert, die Menschen brauchen die Kirche als Institution nicht mehr. Es werden ihnen mittlerweile so viele Glaubensbekenntnisse vermittelt, die sie dann auch willenlos annehmen als vereinfachende Alternative zum sehr anstrengenden Nachdenken und stรคndigem geistigen Neupositionieren. Der Mensch ist nach Desmond Morris das neugierigste und am lรคngsten jรผngste Tier der Evolution, wobei der Glaube den Homo sapiens nur frรผhzeitig altern lรคsst.