Stell Dir vor, Du stehst hoch oben in der Kuppel eines groรŸen Zirkuszeltes. Deine Beine balancieren auf der letzten Sprosse einer langen Leiter, die da wackelig in der Manege steht. Deine Aussicht nach unten ist schwindelerregend, schรถn, aber unglaublich tief. Schemenhaft erkennst Du einige bekannte und gut gelaunte Gesichter. So muss der Blick von der Himmelsleiter sein, denkst Du gerade, als plรถtzlich von allen Seiten rot-wallende Tuchbahnen auf Dich eindrรคngen.

Du versuchst Dich zu wehren und den vermeintlichen Angreifer zurรผckzustoรŸen, doch Deine Arme finden keinen Halt an diesem losen Gegner. Du verlierst das Gleichgewicht und stรผrzt in ein unendliches Faltenmeer. Nun beginnt, รคhnlich zum bekannten โ€šnicht-vom-Fleck-kommenโ€˜-Effekt, die rasant anwachsende Befรผrchtung des finalen Aufschlages โ€ฆ โ€žEssen ist fertigโ€œ, ruft eine Stimme und beendet den Traummarathon der ersten Nacht nach zwei irren Zirkuswochen.

โ€žEssen ist fertig.โ€œ โ€“ so beginnt auch unsere Beteiligungsgeschichte, von der wir hier erzรคhlen mรถchten und von der wir glauben, dass sie รคhnlich wie viele andere Graswurzelinitiativen einen kleinen, aber in ihrer Summe wichtigen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Beteiligung und Fรถrderung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes beitrรคgt.

Wir bauen das erste Mal ein groรŸes Zirkuszelt am Stรถrmthaler See auf. Schwere Zeltbahnen sind zu bewegen. Die Eisennรคgel in den knochenharten Boden zu schlagen, ist schwieriger als erwartet, es hat wochenlang nicht geregnet.

Das AMIMI-Zelt, welches wir vom Alle-Mitmischen-Festival geborgt und am Vortag aufgebaut hatten, gibt uns in Pausen Schutz vor der sengenden Sonne. Es ist wunderschรถn, das Zusammenspiel zwischen dem herrlichen Sommerwetter und dem Zelt-Oldtimer mit seinen rustikalen Holzpfosten und den vergilbten Zeltbahnen. Alle Helfenden kommen in seinem Schatten zum Mittag zusammen, es gibt Kartoffeln und Quark.

Wir rรผhrten die Werbetrommel mit einem Spruch: Einmal im Leben muss man ein Zirkuszelt aufgebaut haben! Und tatsรคchlich, รผber zwanzig Menschen kommen aus dem kleinen Dorf und helfen, obwohl es ein normaler Arbeitstag ist, manche haben sich sogar extra freigenommen. Wir bauen ein Zirkuscamp fรผr ein Kinderferienlager und werden selbst wieder zu Kindern.

Am Abend des Aufbaus bleiben wir zusammen. Weitere Anwohnende und Freunde kommen dazu, Kinder und Erwachsene, zu Kino im Zirkuszelt. Kretes legendรคres Sommerkino findet erstmals in einem Zirkuszelt statt. Wir schauen den Film โ€šVon Bananenbรคumen trรคumenโ€˜.

Die Erwachsenen sind gebannt und trรคumen von den eigenen Mรถglichkeiten unseres kleinen Ortes Dreiskau-Muckern am Stรถrmthaler See. Wie wollen wir zukรผnftig gemeinsam leben? Kรถnnen wir die Entwicklung vor Ort mitgestalten? Natรผrlich und achtsam โ€ฆ

Den Kindern ist der Film zu langweilig, sie verkrรผmeln sich ins AMIMI-Zelt und spielen Werwรถlfe von Dรผsterwald mit einem mysteriรถsen Gast. Am Ende des Abends begeistern sich GroรŸ und Klein wieder gemeinsam fรผr ein besonderes Naturschauspiel โ€“ der Blutmond steigt รผber dem Zirkuscamp auf.

Das Zirkuscamp wird ein groรŸer Erfolg, Zeitung und Internet berichten darรผber. Jede/-r hat seine eigenen persรถnlichen Erlebnisse und Erinnerungen. Denn alle gemeinsam bestehen wir ungeplante Abenteuer. Klimabedingten Extreme werden spรผrbar: zwei Wochen 30โ€“40 Grad Celsius, eine Ameisenplage. Gewitter- und Sandstรผrme suchen uns heim, wir mรผssen unser Zirkuscamp evakuieren und Matthiasโ€˜ Oldtimer-Feuerwehr kommt mehrfach zu Einsatz.

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb ist die Stimmung und das Miteinander groรŸartig. Am Ende der Ferienwochen sehen wir fantastische Zirkusshows, glรผckliche Kinder, verzauberte Eltern und zufriedene Pรคdagog/-innen. Die letzte Kraft geht in die Abschluss-Party โ€“ maximale Erschรถpfung bei allen Beteiligten.

Die Trรคume der Folgenรคchte haben viel zu verarbeiten. Und die Wahrnehmung fรผr viele Dinge hat sich verรคndert โ€“ weil wir das Zirkuszelt selbst aufgebaut haben.

Wie Zivilgesellschaft und Fรถrdertrรคger langfristig und nachhaltig zusammenwirken

Die erzรคhlte Geschichte gehรถrt zum Projekt โ€šSo ein Zirkus um die Kohleโ€˜ aus dem Jahr 2018. Auch wenn das Projekt durch LEADER, einem Fรถrderprogramm der Europรคischen Union fรผr den lรคndlichen Raum gefรถrdert wurde โ€“ ohne den Antrieb und die Unterstรผtzung der lokalen Zivilgesellschaft wรคre es nicht mรถglich gewesen. Die Fรถrderung wiederum garantierte eine personelle Unterstรผtzung mit professionellen Zirkus- und Umweltpรคdagog/-innen.

Aus โ€šSo ein Zirkus um die Kohleโ€˜ entstand der Natur- & Umweltzirkus NAUMZI in GroรŸpรถsna, der sein Konzept in der Verknรผpfung von Umweltthemen mit Zirkus seitdem weiterentwickelt. In den Folgeprojekten probierte sich NAUMZI auch in Demokratiebildung und Partizipation, tรคnzerische und theatrale Formate kamen dazu.

Nach der initialen LEADER-Fรถrderung machte vor allem das Fรถrderprogramm des Bundes โ€šKultur macht starkโ€˜ die Weiterarbeit รผberhaupt mรถglich, wรคhrend der Zugang zu lokalen Kulturraummitteln nicht gelang.

In den letzten fรผnf Jahren gab es mehr als 4.000 frรถhliche Zirkuskindertage in zehn Zirkuswochen, drei jahresbegleitenden Projekten, viele viele Zirkusdonnerstage und Mitmachflรคchen.

Selbstbildungsprozesse und Cultural Community Building

Man kann nicht gerade behaupten, das erste Projekt wรคre wie geplant und problemlos verlaufen, viele Schwierigkeiten waren zu รผberwinden, die eigentlich nicht zum Weitermachen einluden. Aber es hat fรผr die ehrenamtlichen Beteiligten vor allem eines bewirkt โ€“ die Metamorphose von Konsumierenden zu Gestaltenden โ€“ von Verantwortungslosen zu Verantwortlichen.

Inhalte wurden dabei wichtiger als Verpackungen, Qualitรคt zรคhlt vor Quantitรคt, Langfristigkeit statt Kurzsichtigkeit, man kรถnnte die Gegensรคtze fortsetzen, die sich in diesem Wandel ergeben. Und bei vielem neigt man dazu, es von dem kleinen Zirkusprojekt auf das groรŸe Ganze รผbertragen zu wollen.

Eine weitere wichtige Erkenntnis war, zu sehen, was die aktive Einbindung des Umfeldes, der Nachbarn und Angehรถrigen bewirkte. Dieser Effekt erweckte die Aufmerksamkeit der politikwissenschaftlichen Fakultรคt der Universitรคt Leipzig. Der Podcast KUBILAND โ€žKinderzirkus und Partizipation โ€“ PartiZirkussion!โ€œ fokussierte 2020 neben der Jugendpartizipation auch den positiven Effekt des sog. โ€šCommunity Buildingโ€˜ in NAUMZIโ€˜s Projekten.

Cultural Community Building: โ€žHow are the lives of members of the community made better by the work you do?โ€œ โ€“ dies mรผsse die zentrale Frage fรผr Kultureinrichtungen sein, so schlรคgt der amerikanische Kulturwissenschaftler Borwick in seiner einschlรคgigen Publikation Building Communities, Not Audiences (Borwick 2012:38) vor.

Non-profit Kultureinrichtungen sollten sich nicht darauf beschrรคnken, Kunst zu produzieren und zu prรคsentieren, sondern die Kompetenzen ihrer Hรคuser und ihrer Mitarbeitenden dafรผr einsetzen, bedeutungsvolle Beziehungen mit der Community bzw. Nachbarschaft, in der sie verortet sind, aufzubauen. Ein Effekt, der bei NAUMZI unbewusst und ganz natรผrlich auftrat.

Natur- & Umweltzirkus NAUMZI โ€“ 5 Jahre nachhaltige Jugendkulturarbeit und Lust auf MEHR

Die Symbiose aus kultureller Bildung und Bildung fรผr nachhaltige Entwicklung wurde mittlerweile auf Landes- und Bundesebene mehrfach prรคmiert: Mitmachfonds 2019, eku-Zukunftspreis 2020, Sรคchsischer Preis fรผr Kulturelle Bildung โ€“ Kultur.Lebt.Demokratie. 2021, Bundeswettbewerb RAUSKOMMEN โ€“ Der Jugendkunstschuleffekt 2021, demokratisch-handeln 2022, Nominierung fรผr den Deutschen Engagementpreis 2022.

Der Natur- & Umweltzirkus NAUMZI hat in diesen vielseitigen Facetten der Beteiligung Lust auf MEHR bekommen โ€ฆ NAUMZI mรถchte eine Kindertrauminsel zusammen mit Kindern und Jugendlichen am Stรถrmthaler See aufbauen โ€ฆ eine Insel fรผr SpielespaรŸ, Kultur, Natur-, Umwelt- und Demokratiebildung, Kinder- und Jugendbeteiligung aber auch Generationenaustausch im Leipziger Neuseenland.

Und NAUMZI zeigt vor allem auch eines โ€“ nรคmlich, dass nachhaltige Bรผrgerbeteiligung unabhรคngig von kommunalen und staatlichen Beteiligungsambitionen stattfinden kann. Das Gelingen in Form des Zulassens, der Weiterentwicklung und Unterstรผtzung in eine reale Umsetzung ist allerdings ganz wesentlich von der kommunalen und administrativen Akzeptanz abhรคngig.

*Frank Beutner war Bรผrgervertreter in der Lenkungsgruppe zum Bรผrgerbeteiligungsprojekt โ€žMagdeborner Halbinselโ€˜ und ist Sprecher der Naturschutzallianz fรผr Uferleben Stรถrmthaler See e. V.

Der Beitrag entstand im Rahmen der Workshopreihe โ€žBรผrgerjournalismus als Sรคchsische Beteiligungsoptionโ€˜ โ€“ gefรถrdert durch die FRL Bรผrgerbeteiligung des Freistaates Sachsen.

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Ja โ€“ Gรคnsehaut beim Lesen. Erinnerungen an 2 extrem spannende Wochen und 2 Wochen davor. Es war anstrengend und herausfordernd und es bleibt โ€“ im Gedรคchtnis. Ich habe es gerne gemacht und empfehle jedem die Mรถglichkeit zu nutzen Zirkus zu machen

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