40 Erwachsene und elf Kinder leben auf dem Wagenplatz โkarlhelgaโ im Leipziger Stadtteil Plagwitz. Durch den Verkauf der vorherigen Eigentรผmerin befindet sich die vom Verein gepachtete Flรคche nun im Besitz des Investors Christoph Grรถner. Die Zukunft des Wagenplatzes ist damit ungewiss. Dabei geht es fรผr den Stadtteil Plagwitz โ und die Stadt Leipzig โ um mehr als nur das Zuhause der 51 Bewohner/-innen โ sozial, รถkologisch und kulturell.
Kaltluftschneise, Biodiversitรคt und Ressourcenschonung
Fรผr Jascha L. (Name von der Redaktion geรคndert), die mit Partner und ihren zwei Kindern auf dem Wagenplatz lebt, ist โkarlhelgaโ nicht nur Zuhause und Begegnungsort, sondern auch ein รถkologischer Schatz fรผr den Stadtteil: โLeben im Wagen bedeutet Leben ohne Betonfundament. Nichts ist zusรคtzlich versiegelt worden und dadurch ist die ganze Funktion einer Grรผnflรคche gegeben, beispielsweise in Sachen Verdunstung und Versickerung des Niederschlags.โ
Damit ist das Areal Teil eines Frischluftkanals รผber den Plagwitzer Bรผrgerbahnhof in das Viertel hinein. Plagwitz wurde รผber die Jahre stark zugebaut, nachverdichtet und leidet im Sommer zunehmend unter der รberhitzung durch die Klimakrise.
Die Bewohner/-innen lassen dabei die Natur um die rund 70 Wรคgen herum nicht einfach nur wachsen. Durch aktive Mithilfe ist ein Hort der Biodiversitรคt entstanden. Der Baumbestand ist angewachsen, Bรผsche, angelegte Teiche und Totholzhaufen bieten Lebensraum und Unterschlupf fรผr zahlreiche geschรผtzte und ungeschรผtzte Tierarten. Gรคrten, Beete und Blumen sorgen fรผr Insektenvielfalt.
Ihren Strom gewinnen die Bewohne/-innen aus Solaranlagen, geheizt wird mit Biomasse und auch der Wasserverbrauch liegt bei Jaschas Familie mit 120 Litern pro Woche deutlich unter dem Leipziger Durchschnitt von 120 Litern โ pro Tag.
รkologisch macht das Leben auf dem Wagenplatz aber auch eine starke Do-It-Yourself- und Sharing-Kultur. Diese ist dabei mehr als eine Notwendigkeit des Lebensstils. Der Wagenplatz macht sie รผberhaupt erst mรถglich.
Die Fรผlle der unterschiedlichen handwerklichen Fertigkeiten der Bewohner/-innen, die enge Vernetzung untereinander und die solidarisch verteilte Pacht des Platzes lassen eine einzigartige Repaircafรฉ-Atmosphรคre fรผr den ganzen Stadtteil entstehen.
Dabei geht es nicht nur um kleinere Gerรคte oder Lastenrรคder, sogar Autos und Busse werden hier repariert oder ausgeschlachtet, den Teilen wird ein zweites Leben geschenkt. โAuch wenn die Sharing-Kultur in Leipzig immer mal wieder angefangen wird, sehe ich diese nirgendwo so effektiv funktionieren wie hierโ, betont Jascha.
Begegnungsort, Kultur und umeinander Kรผmmern
Nicht nur fรผr die Bewohner/-innen und ihre Kinder, auch fรผr zahlreiche Besucher/-innen ist der Wagenplatz ein Ort der Gemeinschaft. Zweimal im Monat organisieren die Bewohner/-innen โKรผfasโ (Kรผche fรผr alle), bei denen ca. 60-100 Essensportionen ausgegeben werden. Hinzu kommen zwei bis vier weitere รถffentliche Veranstaltungen im Monat, z. B. Konzerte oder Lesungen. Die Teilnahme lรคuft auf Spendenbasis, denn den Bewohner*innen ist es wichtig, allen Menschen soziale Teilhabe zu ermรถglichen.
Darรผber hinaus stehen auf dem Wagenplatz zwei Gรคstewรคgen und vier Gรคstestellplรคtze zu Verfรผgung. Auf Entscheidung des Wagenplatz-Plenums โ dem hรถchsten Gremium der basisdemokratisch organisierten Gemeinschaft โ kรถnnen so verschiedene Menschen vorรผbergehend beherbergt werden: Gรคste, Menschen auf Durchreise, Menschen, die neu in Leipzig ankommen oder Geflรผchtete โ aber auch beispielsweise die Protagonist/-innen der Veranstaltungen. Diese kommen nicht nur aus Leipzig, sondern auch aus anderen Orten Deutschlands und anderen Lรคndern der Welt.
โAls jetzt eine Delegation aus Mexiko kam, konnte ich nach der Podiumsdiskussion das gesammelte Team und weitere Menschen aus Mexiko zur รbernachtung einladen, mit drei, vier grรถรeren Autos. Abends konnten wir zusammen am Feuer sitzenโ, erzรคhlt Dolmetscherin Jascha.
Fรผr Jascha ist der Wagenplatz nicht nur ihr Zuhause und das ihrer Familie, sondern ein wichtiger Modell-Ort fรผr ein gemeinschaftliches, naturverbundenes, und รถkologisches Leben mitten in der Groรstadt. Werte, die in den รถkologischen und sozialen Krisen immer mehr an Bedeutung gewinnen. โWir haben hier Dinge, die eben nur durch den Wagenplatz und diesen Standort in dieser Form mรถglich sindโ, so Jascha.
Aktuell versuchen die Bewohner/-innen, Mรถglichkeiten auszuloten, wie der Wagenplatz erhalten bleiben kann. Der Konflikt des Wagenplatzes besteht somit zwischen Bewohner/-innen-Interessen, รถkologischen sowie soziokulturellen Belangen und den wirtschaftlichen Interessen des Investors.
Ein Klassiker kรถnnte man sagen. Dennoch besteht auch bei jedem Klassiker die Chance, zu einem Novum fรผr die Stadt und ihre Entwicklung zu werden. Wie groร diese Chancen sind, lรคsst sich aktuell schwer einschรคtzen. Die LZ wird hierzu berichten.
รber den Wagenplatz โKarlhelgaโ in Leipzig-Plagwitz
Den Wagenplatz und soziokulturellen Veranstaltungsort gibt es seit 15 Jahren. Das Areal umfasst ca. 1,4 Hektar, auf ihm befinden sich ca. 70 Wรคgen. Die 51 Wagenplatzbewohner/-innen bilden laut Jascha einen Querschnitt der Gesellschaft ab: Wissenschaftler/-innen, Kรผnstler/-innen, Handwerker/-innen โ Angestellte, Selbststรคndige und Erwerbsfreie.
Jede Person und jedes Kind hat dabei einen eigenen Wagen. Geteilt werden Wissen, Werkzeug, Hilfe und Unterstรผtzung sowohl untereinander als auch mit Nachbar/-innen und anderen Projekten. Raum fรผr Austausch und Begegnung bietet sich auch auf den zahlreichen Veranstaltungen und den wรถchentlichen Plena der selbstverwalteten Gemeinschaft.
รber Jascha L.
Die Diplom-Dolmetscherin lebt mit ihrer Familie seit รผber sieben Jahren auf dem Wagenplatz. Geliebรคugelt hatte sie mit dem Leben auf dem Wagenplatz schon lange, aber erst die Trennung von dem Vater ihres ersten Kindes lieร sie den Schritt wagen. Ihr zweites Kind wurde auf dem Wagenplatz geboren. Gerade als frischgebackene Mutter genoss sie es sehr, nicht isoliert in einer Wohnung zu leben, sondern nahtlos weiterhin viel Zeit im Freien und in Gesellschaft verbringen zu kรถnnen.
Auch ist sie glรผcklich, dass ihre Kinder eben nicht an einer Straรe aufwachsen mรผssen, sondern unkompliziert viel Zeit im Freien verbringen kรถnnen. Das Leben auf dem Wagenplatz ist fรผr sie zwar auch mit Anstrengung und Aufwand verbunden, aber trotzdem kindgerechter und menschlicher, als vereinzelt isoliert in einer Wohnung zu wohnen. Im menschlichen Miteinander kรถnne man viel lernen.
Der Beitrag entstand im Rahmen der Workshopreihe โBรผrgerjournalismus als Sรคchsische Beteiligungsoptionโ โ gefรถrdert durch die FRL Bรผrgerbeteiligung des Freistaates Sachsen.
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Es gibt 6 Kommentare
Ein ehemaliger Bewohner hat mir erklรคrt, dass die Bewohnenden des karlhelga die wohl lange Frist zum Selbstkauf verpasst (Zitat โvergammeltโ) haben und nun der Investor zugeschlagen hat. Nun wird der Platz (medial) aktiv.
Hat LZ zu der (so scheint es) Mutmaรung Etwas gehรถrt?
Auch eine Straรenbahn ist mit 50 km/h lauter als Autos (von Irren mit aufgebohrten Auspuffen mal abgesehen), aber direkt so sagen sollten Sie das dennoch nicht.
@Bahnschranke: Lรคrm mag sein, aber ein Holzofen, der auch gerne noch mit anderer โBiomasseโ, sprich Restmรผll befeuert wird ist deutlich schlimmer in Sachen Feinstaub und Umweltgifte als eine vielbefahrene Hauptstraรe
@Tobias als Anwohner spรผrt man nur den Lรคrm und Dreck der Gieรerstraรe, haben sie etwas verwechselt?
Wenn ich mir die mobile Werkstatt auf dem Bild ansehe und dazu noch die Umweltschutzbestimmungen fรผr Kfz-Werkstรคtten. Zitat: โsogar Autos und Busse werden hier repariert oder ausgeschlachtetโ Ist das ein Fall fรผr das Ordnungsamt.
รkologische Idylle wollen, aber mit dreckiger Holzverfeuerung und Euro 0 Dieseln die Luft der Anwohner*innen verpesten.