Als Wissenschaftler, der mit statistischen Forschungsmethoden und dem Drang zu einem möglichst objektiven Blick auf das Geschehen in der Welt arbeitet, treffe ich derzeit auf viele eher deprimierende Fragen. Kommt es zu einem Ende der Demokratie, wie wir sie heute kennen, wenn Donald Trump wieder amerikanischer Präsident wird? Kommt ein „Wutwinter“ oder ein „Wutfrühjahr“?
Wird der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbrechen, und ist es überhaupt ein gesellschaftlicher Zusammenhalt, den wir wollen? Müssen wir wieder mit rassistischen oder antisemitischen Angriffen auf Bürger unseres Landes rechnen? Und wie steht es um rassistische Haltungen in der Bevölkerung?
Man kann versuchen, eine gewisse Distanz zu den mit diesen Fragen verbundenen Daten zu bekommen und Erklärungsfaktoren zu bestimmen. Man kann sie in wissenschaftliche Publikationen einfließen lassen, und hoffen, dass diese doch zufällig einmal an der richtigen Stelle gelesen werden.
All dies schützt einen aber nur im ersten Moment vor den Alltagskonsequenzen der Forschung. So gibt es in diesem Prozess immer wieder Momente, die mich bedrücken.
Stellt man fest, dass mehr als zwei Dritteln Schwarzer Menschen in Deutschland ungebeten in die Haare gegriffen wird, über 50 % der Deutschen Langzeitarbeitslose für Menschen halten, die der Gesellschaft nur auf der Tasche liegen oder genauso viele einen Bürgermeister ablehnen würden, wenn seine Religion muslimisch wäre, dann beginnt man doch an der Welt zu zweifeln.
Denn diese Einstellungen sind die Grundlage, auf der es zu Übergriffen und Ausgrenzung von Menschen kommt. Und es sind die Einstellungen, die Rassismus und andere Abwertungen abbilden.
Wenn ich träume, stelle ich mir eine Welt der Zukunft vor, in der genau eine solche Abwertung nicht stattfindet und die auf der Basis der universellen Menschenrechte verliehenen Rechte auch in den Köpfen der Bürger und im Zusammenleben Bedeutung sind.
Vor allem sollte man mehr miteinander reden, statt sich aus der Ferne Urteile über andere Gruppen und deren Mitglieder zu bilden, die zu Abgrenzung und im schlimmsten Fall zu Hass führen. Das bedeutet nicht, Probleme zu übersehen oder leichtgläubig zu sein, sondern einfach anderen Menschen und Gruppen so offen entgegenzutreten, wie man möchte, dass andere Menschen einem selbst gegenübertreten.
Denn so wie jetzt vielleicht Geflüchtete aus der Ukraine oder Syrien hier Fremde sind, ist man dies selbst an vielen Stellen und Orten auch. Dort möchte man selbst die Ablehnung nicht erfahren, die man manchmal anderen gegenüber äußert.
Oft sind es einfache Kontakte, die genügen, um die als fremd gesehenen Menschen kennenzulernen. Dies ist nicht nur eine platte Aussage, sondern ist auch vielen sozialpsychologischen Studien wissenschaftlich belegt. Vor allem aber zeigt es die Alltagserfahrung.
Dass dabei der Begriff des Rassismus nicht nur eine leere Formel ist, sehe ich mehr und mehr in dem Projektverbund, den ich seit Anfang des Jahres 2022 leite. Immer häufiger kommen Hinweise auf solche unberechtigten Ungleichwertigkeiten in meinen Blick.
Da ist es manchmal schwer, Distanz zu halten – und meinen Studierenden traditionelle Religionssoziologie beizubringen. In gewisser Weise freut und beruhigt es mich dann, die Offenheit, das Interesse und das zupackende Verständnis meiner Studierenden zu sehen.
Sie wollen die Welt nicht mehr nur mit Blick auf einen guten Arbeitsplatz erleben, sondern sie wollen eine Welt gestalten, in denen Menschen ganz unterschiedlicher Hautfarbe, Religion, sozialer Lage und Geschlechtsidentität unbesorgt und nicht angefeindet leben können. Oft scheint mir der Weg noch lang, aber zumindest sehe ich etwas Hoffnung für die Zukunft.
*Zum Verfasser: Prof. Dr. Gert Pickel, Jahrgang 1963, ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig. Er arbeitet schwerpunktmäßig zur Religionssoziologie sowie der Demokratie- und politischen Kulturforschung. Aktuell ist er unter anderem Co-Leiter des Teilinstituts Leipzig des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt und leitet den Projektverbund „Rassismus in Institutionen.“
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„Wenn Leipziger/-innen träumen: Eine Welt ohne Rassismus und Abwertung“ erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern
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