Leipzig hat seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges 10.000 Ukrainerinnen aufgenommen, die meisten davon leben inzwischen in eigenen Wohnungen, bekommen Unterstรผtzung vom Jobcenter, lernen Deutsch, einige sind schon in Arbeit, die Kinder gehen in Kindergรคrten und Schulen. Aber nicht alle: Wer aus dem Behรถrden-Schema herausfรคllt, Drittstaatler ist oder Mensch mit rechtlich ungeklรคrter Identitรคt, klopft vergeblich an die Tรผren unserer gastfreundlichen Stadt.

Josef heiรŸt Turpal, ist 34 Jahre alt und Tschetschene. Er geht an Krรผcken. Er hat seit 2015 im Donbass fรผr die Ukraine gekรคmpft, in einem tschetschenischen Freiwilligenbataillon. 2017 ist er verwundet worden, ein Granatsplitter hat ihm den linken Oberschenkel zertrรผmmert. Bei der Notversorgung im Lazarett von Dnipro ist ein Keim in den Knochen gelangt. Trotz fรผnf Operationen in Kiew kann er schlecht gehen und hat Schmerzen, er hat auf die 6. Operation gewartet, als der Krieg fรผr Europa anfing.

Maria heisst Lyudmila, sie ist 28 Jahre alt. Sie ist in Transkarpatien geboren und hat in Kiew als Krankenschwester gearbeitet. Da hat sie Turpal kennengelernt. Sie haben islamisch geheiratet und im Oktober 2021 einen Sohn bekommen. Adam war vier Monate alt, als sie nach Leipzig kamen. Josef weiรŸ, was Krieg bedeutet.

Schwierigkeiten bei der Registrierung

Anfangs waren sie in einem Hotel untergebracht. Ich habe sie kennengelernt, weil Freunde mich gebeten hatten, Turpal in eine medizinische Behandlung zu bringen. Als er mit Schmerzen in die Notaufnahme der Uniklinik kam, ist er mit Schmerzmitteln wieder weggeschickt worden. Ich konnte erreichen, dass wenigstens ein Rรถntgenbild und eine Blutanalyse gemacht wurden. Eine OP sei dringend nรถtig, wenn er nicht invalide bleiben wolle, aber erst mรผsse die Kostenรผbernahme geklรคrt werden.

Bei der Registrierung gab es Schwierigkeiten. Lyudmilas und Adams Pรคsse waren in Ordnung, aber Turpal hatte keinen. Ursprรผnglich gelten Tschetschenen als russische Staatsbรผrger. Sein Ausweis zur stรคndigen Residenz in der Ukraine wurde eingezogen, weil ein Fรคlschungsverdacht bestand. Ohne Ausweis keine Fiktionsbescheinigung, das heiรŸt kein (vorlรคufiges) Aufenthaltsrecht, keine Leistungen vom Jobcenter, keine Krankenversicherung.

Anfang Mai sollte die Familie in eine Erstaufnahmeeinrichtung umziehen, wo sie keinen abgeschlossenen Raum fรผr sich gehabt hรคtte, der Badcontainer war 800 m entfernt; zu weit fรผr Turpal und die Mutter mit dem Baby. Am 13. Mai sind Sie bei mir im Schlafzimmer eingezogen, meine Wohnung ist klein, 56 mยฒ, aber es war ja nur vorรผbergehend, wie wir alle dachten. Sobald Sie Geld vom Jobcenter bekommen, wollten Sie in eine eigene Wohnung ziehen.

Ich habe Ihnen einen Anwalt besorgt. Es hat lange gedauert, aber irgendwann im Juni hatten alle 3 eine Fiktionsbescheinigung und bekamen ALG2. Eine kleine Wohnung zu finden, war aber schwierig. Mich hat es nicht gestรถrt, ich schlafe im Sommer ohnehin meist im Garten. Im Juli, August, September konnten Sie einen Energiekostenzuschuss bezahlen โ€“ vier Leute verbrauchen mehr als eine, die Waschmaschine lรคuft bei einem Baby fast jeden Tag.

Adam war inzwischen acht Monate alt und fing an zu krabbeln, im Wohnzimmer musste alles ausgerรคumt werden, wo er dran kam. Die Schreiben des Rechtsanwaltes zu den Vorwรผrfen bezรผglich der Papiere wurden nicht beantwortet.

Dann kam die Polizei

Stattdessen kam Anfang September an einem Montag frรผh um 6.30 Uhr die Polizei. Lyudmilla rief mich zitternd an โ€“ sie hatte Angst, dass Turpal nach Russland abgeschoben wird, was fรผr ihn einem Todesurteil gleichkรคme. Ich kam aus dem Garten angerast. In meinem kleinen Wohnzimmer saรŸen meine Gรคste und versuchten das aus dem Schlaf gerissene Baby wieder zu beruhigen, um sie herum drei Polizeibeamte, die sich sehr korrekt verhielten, ein Durchsuchungszeuge der Auslรคnderbehรถrde, der sich nicht auswies und nicht nur meine Gรคste, sondern auch mich aggressiv und feindselig anging wie Verbrecher (ich dachte, er sei vom Verfassungsschutz).

Und ein russischsprachiger Dolmetscher, der den Krieg als Spezialoperation bezeichnete und falsch รผbersetzte. Sie hatten das Zimmer der kleinen Familie und ihre Handys durchsucht und hatten alle weiteren Papiere Turpals, seinen Fรผhrerschein und sein Vojenny Billet (Ausweis รผber Kriegsteilnahme) mitgenommen. In Lyudmilas Koffer haben sie auรŸer dem ukrainischen noch einen ungarischen Pass gefunden. Ein Onkel in Transkarpatien hatte fรผr die ganze Familie ungarische Pรคsse machen lassen. Orbรกn, der vom groรŸungarischen Reich trรคumt, wie Putin vom groรŸrussischen, kauft damit Wรคhlerstimmen und beansprucht vermutlich EU-Gelder.

Wie sich herausstellte, war auch der Fรผhrerschein gefรคlscht. Turpal hat beides in Kiew gekauft, weil er sich nicht auf dem Amt anstellen und von nach A nach B laufen konnte. Die Ukraine ist das korrupteste Land Europas, nach Russland. In der Ukraine und bei der Ausreise wurden die Papiere akzeptiert. Das Vojenny Bilett ist seine einzige Versicherung, in die Ukraine einreisen zu kรถnnen.

Der Anwalt beruhigte uns, dass eine Abschiebung nicht zu befรผrchten sei und das Ganze nun endlich geklรคrt werden wรผrde. Meine Gรคste suchten eine Wohnung und hatten Mitte Oktober endlich eine gefunden. Der Vermieter wollte die Aufenthaltsverlรคngerung sehen. Als Lyudmila Ende Oktober zur Auslรคnderbehรถrde ging, um ihre Fiktionsbescheinigung zu verlรคngern, wurde sie von einem Bearbeiter in Anwesenheit einer Dolmetscherin verhรถrt.

Sie weinte und zitterte noch drei Tage spรคter, als sie mir davon erzรคhlte. Das Protokoll war nicht unterschrieben und versammelte nur Vorwรผrfe gegen sie, ohne ihre Erklรคrungen fรผr den ungarischen Pass aufzufรผhren. Sie sei Ungarin โ€“ kann aber kein Ungarisch, war da nie und kennt dort auch niemanden โ€“ das Kind Ukrainer, der Mann Tschetschene, die islamisch โ€“ vor dem Imam โ€“ geschlossene Ehe wird in Deutschland nicht anerkannt.

Das Jobcenter stellt die Leistungen ein

Zwei Tage spรคter wurden vom Jobcenter alle Sozialleistungen eingestellt โ€“ nicht nur fรผr die Frau und den Mann, sondern auch fรผr das Kind. Seit November haben sie keinerlei Einkรผnfte mehr, keine Krankenversicherung, keine Aussicht auf Klรคrung. Sie wohnen weiterhin in meiner Wohnung, essen, das Kind wรคchst und braucht neue Sachen. Sie borgen sich Geld von Freunden, die selbst arm sind, und wohnen auf meine Kosten.

Das Sozialamt ist freundlicher als das Jobcenter, aber muss Ansprรผche erst prรผfen. Im Dezember kam der Bescheid, dass der materielle Aufenthalt nicht gegeben sei und deswegen kein Anspruch auf Leistungen bestehe.

Der Anwalt war lรคnger krank. Er hat zahlreiche Widersprรผche formuliert und auf die meisten keine Antwort erhalten. Er hรคlt die Einstellung von Leistungen, bevor ein Bescheid erfolgt ist, fรผr unrechtmรครŸig. Er sagt, dass er, seitdem er Auslรคnder vertritt, den Glauben an den Rechtsstaat verloren hat. In Sachsen sei es noch schlimmer als anderswo.

Ich bin mit Lyudmila aufs Jobcenter gegangen, auf der einen Seite der Georg-Schumann-StraรŸe ist sie als Ukrainerin registriert, die allerdings keinen Anspruch auf Leistungen hat. Auf der anderen Seite als Ungarin, die Arbeit sucht. Krankenschwestern werden gebraucht. Allerdings brauchte sie Deutschkenntnisse, beglaubigte Papiere und einen Kindergartenplatz. Fรผr nichts davon will das Jobcenter aufkommen.

Wรคre sie Ukrainerin, wรคre das mรถglich. Dass sie beides ist, bringt die Sachbearbeiterinnen zur Verzweiflung: โ€žDas lรคsst unser System nicht zu.โ€œ Ich habe ihr vorgeschlagen, sich noch als Jรผdin anzumelden, ihre Mutter ist jรผdisch und lebt in Israel. Sie hat gelacht, was inzwischen selten geworden ist. In der Familie ihres Vaters gibt es Roma, die brรคuchten gar keine Ausweise.

Am 18. Dezember, kurz vor Weihnachten, kam ein Bescheid von der Auslรคnderbehรถrde, wonach Turpal binnen 30 Tagen Deutschland zu verlassen hat. Wenn er lรคnger als drei Tage abwesend ist, muss er das melden. Wenn er nicht freiwillig ausreist, wird er abgeschoben. Falls ich ihn dann noch beherberge, gelte ich als kriminelle Schleuserin, die ebenfalls gegen das Aufenthaltsgesetz verstรถรŸt.

Josef ist Tschetschene, Maria ist Ukrainerin oder Ungarin oder Jรผdin. Ihre Beziehung ist vor den deutschen Behรถrden illegitim. Ansprรผche auf Unterstรผtzung haben sie nicht und inzwischen auch kein Recht auf Aufenthalt mehr. Sie bekommen in Leipzig kein Geld, keine Wohnung, kein Recht.

Adam ist kein Heiland, nur ein Kind. Er kann inzwischen laufen und versteht vier Sprachen. Er sagt โ€žMamaโ€œ, โ€žTataโ€œ (ukrainisch) โ€žTikaโ€œ (zu mir โ€“ Tjotja ist russisch fรผr Tante). โ€žGokโ€œ (Tschetschenisch: heiรŸ). Auf Deutsch hat er โ€žNein!โ€œ gelernt.

*Zur Verfasserin: Beate Mitzscherlich, Dr. phil., Psychologin, ist Professorin fรผr Pรคdagogische Psychologie und Ethik im Gesundheitswesen an der Westsรคchsischen Hochschule Zwickau; schreibt und forscht seit 1995 รผber subjektive Dimensionen von Heimat. Sie lebt in Leipzig.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Keine Kommentare bisher

Mal abgesehen davon, dass nicht mehr zuverlรคssig zwischen Personalpronomen und Anrede unterschieden wird โ€“ warum hat Turpal als Tschetschene schon 2015(!) fรผr die โ€žkorrupteโ€œ Ukraine in einem Bรผrgerkrieg gekรคmpft? Weil auf der anderen Seite โ€žRussenโ€œ standen?
Sachsen ist nach Jahrzehnten der Rechtsblindheit und Nรผtzlichkeitsethik im Umgang mit Menschen verdorben. Vielleicht trรถstet es die Autorin, dass bei Turpal zwar nuancierend noch die Verachtung fรผr โ€žAuslรคnderโ€œ hinzukommt, aber schon die allgemeine Verachtung fรผr โ€žVerliererโ€œ als Grundierung oft ausreichend vorhanden ist.

Schreiben Sie einen Kommentar