Jahresende – das ist Weihnachten, Besinnlichkeit und Silvester. Drei feste Termine also, an denen einerseits auch Amateure wie Profis saufen, um anschließend mehrmals am Tag neben das Klo zu kotzen. Aber natürlich ist es auch die Zeit des Jahres, zu der man unwahrscheinliche Wünsche ans Universum sendet, in der leisen Hoffnung, sich damit weder übernommen noch unterschätzt zu haben.
Nun, Herr Gray, was wünschen Sie sich denn so fürs Neue Jahr?
Was ich mir für meine kleine Welt hier und die große da draußen hinter meinen zum Glück weiter ungeputzten Dachfenstern wünsche ist: Einige echte Konservative, in anderen Worten: eine wirkliche, vor allem auch intellektuell satisfaktionsfähige Opposition.
Was wir statt Konservativen haben, ist ein Zoo aus Selbstdarstellern, Postensamurais oder Amateurnazis, die ihren angeblichen Konservatismus nur aus Eitelkeit, Dummheit oder Postenjägerei vorschieben.
Man könnte solchen Leuten zugutehalten, dass sie es wenigstens mal mit einer Phantomüberzeugung versucht hätten. Viele sind allerdings selbst dafür charakterlich zu fragil und landen daher folgerichtig bei den Hilfsnazis der AfD, die dem Rest der Welt außer „Ich bin gekränkt und ihr seid schuld!“ noch nie etwas von Belang zu sagen gehabt haben.
Wie LANGWEILIG.
Andere Oppositionsparteivertreter, wie Söder, Kretschmer oder Fritze Merz behängen sich mit der absurden Selbstbezeichnung „moderne Konservative“. Dabei kann es so etwas wie moderne Konservative gar nicht geben. Denn was wahre Konservative auszeichnet ist, dass sie eben nie modern, sondern stets rückwärtsgewandt sein wollen. Aber dabei das Kunststück vollbringen, dennoch Realisten zu bleiben.
Ein rückwärtsgewandter Realist, das ist ein Mensch, dessen tiefe Überzeugungen ihn in eine Rolle als Bremser/-in der Avantgarde und des hin und wieder allzu forsch vordrängenden Zeitgeistes nötigen, wobei ihnen eben jene etwas rückständigen Werte als Maßstäbe dafür dienen, sich an bewährten historischen Traditionen und politischer und intellektueller Kontinuität zu orientieren, statt sich von Furcht vor Veränderung, Kränkung oder Nostalgie treiben zu lassen.
Was den gesellschaftspolitischen Vorteil solcher wahrer Konservativer ausmacht, ist, dass sie die Furcht und Trägheit der Veränderungen scheuenden Bürgermasse bedienen und ihnen Trost beim Überschreiten der notwendigen nächsten technologischen, soziologischen oder ökologischen Entwicklungsschwelle bieten können.
Nostalgie, nicht Konservatismus ist aber, worauf unsere vermeintlich konservative Opposition abfährt. Kretschmer träumt offenbar von einer Adenauer-CSU mit russischem Gasanschluss zum Festpreis, während Merz glaubt, dass der Markt so ziemlich alle drohenden Katastrophen, die uns gerade die Zehennägel aufzurollen drohen, schon richten wird.
Nostalgie, um das hier noch mal klarzustellen, ist bloßes Unbehagen an der Gegenwart, das die Vergangenheit unrealistisch rosarot verklärt.
Wahrer Konservatismus hingegen bedeutet, sich anhand eines Wertebaukastens aus historischen Erfahrungen und bewährten Traditionen an den Problemen der Gegenwart so abzuarbeiten, dass man zu historischen Wendepunkten mit dem Bade zwar weiter das Kind ausschüttet, dabei aber sehr bewusst dafür sorgt, dass es weich und sicher landet.
Für diese weiche Landung des Babys zu sorgen, ist der Job des Konservativen. Ein anderer Teil seines Jobs ist es, den rechten Zeitpunkt zu erkennen, wann es ohne das Ausschütten der Badewanne nicht mehr möglich ist, dafür zu sorgen, dass die Welt lebenswert bleibt.
Nicht der Job der Konservativen ist es, voller Hohn auf das vom Umsturz der Wanne schreiende Baby zu weisen und „Ich hab’s euch doch gleich gesagt!“, zu brüllen. Das ist es, was der traurige, aber wahrhaftige Konservative Guiseppe di Lampedusa damit meinte, dass alles sich ändern müsse, damit alles so bleiben könne.
„Haltungsnote: Nostalgiker im Schlafrock“ erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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