Der erste Beitrag, den Anna Perepechai am 28. Februar auf ihrem Instagram-Account „ukraine_leipzig“ teilte, zeigt die ukrainische Flagge. „Diese Seite versteht sich als Austauschplattform für alle, die sich mit der Bewegung für Ukraine solidarisieren wollen“, schrieb sie darunter auf Deutsch und Ukrainisch. Innerhalb eines Tages folgten dem Account 500 Menschen, aktuell sind es 1.600.

Die HGB-Studentin mobilisiert regelmäßig für pro-ukrainische Demonstrationen in Leipzig, dokumentiert diese und bittet um Spenden für die Ukraine. Sie betreibt die Seite bisher allein, ist aber auf der Suche nach Unterstützung und arbeitet eng mit dem „Freundeskreis der Ukraine“ zusammen, der die Demos anmeldet. Das ganze Interview fand am 20. Oktober statt.

Welche Entwicklungen haben Sie in der deutschen Öffentlichkeit bezüglich der Ukraine seit Februar wahrgenommen?

Was mich sehr freut, ist, dass viel mehr Menschen die Unterschiede zwischen der ukrainischen und der russischen Sprache überhaupt bemerken und Ukrainisch als eigenständige Sprache wahrnehmen. Anfangs wurden manche deutsche Informationswebseiten für Geflüchtete nur auf Russisch übersetzt, mittlerweile sieht man auch eine ukrainische Übersetzung, teilweise ersetzt sie komplett die russische. Es ist schön zu hören, dass mittlerweile viele Menschen hier Ukrainisch lernen!

Passiert es Ihnen häufig, dass Sie auf Russisch angesprochen werden?

Seitdem ich in Deutschland lebe, passiert es regelmäßig, dass Menschen mich direkt auf Russisch ansprechen, wenn sie meinen Akzent im Deutschen hören, mir beim Trinken auf Russisch zuprosten, solche Sachen. Das hat sich nie gut angefühlt, weil es bedeutet, dass die Menschen entweder denken, ich sei Russin, oder ich wolle aufgrund meiner „Ost-Herkunft“ automatisch gern Russisch sprechen. Eines meiner ersten Gespräche hier in Deutschland habe ich mit einer Person geführt, die zu mir gesagt hat: Deine Sprache existiert doch gar nicht!

Warum denken die Menschen das?

Ich glaube, das hat besonders in Ostdeutschland einfach historische Gründe. Während meines Studiums in Weimar habe ich bemerkt, dass viele Menschen hier ein verzerrtes Bild von der Sowjetunion haben. Sie verallgemeinern stark und sprechen heute noch von „russisch“, wenn sie eigentlich „sowjetisch“ meinen, was im Imperialismus und Kolonialismus des sowjetischen Russlands begründet ist. Die Sowjetunion hat sehr viel dafür getan, die Identitäten von 15 Ländern zu zerstören.

Meine Muttersprache ist Ukrainisch, doch ich kann perfekt Russisch, und ich weiß auch, warum – wegen der Russifizierung, wegen vieler Toter und Unterdrückung. Mit 13 Jahren ist mir das klargeworden, und seitdem spreche ich nur noch Ukrainisch. Russisch spreche ich nur, wenn es nicht anders geht.

Personenvorstellung: Anna Perepechai ist 1989 in Poltawa, Ukraine geboren und studierte Journalismus in Kiew. 2014 kam sie nach Deutschland. Nach dem Studium in Weimar und Montreal kam sie 2020 nach Leipzig, wo sie Fotografie und Bewegtbild an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) studiert. Seit Februar unterstützt sie geflüchtete Studierende, hat außerdem das deutsch-ukrainische Kunstkollektiv Óstov mitbegründet, das im Kunstaktivismus angesiedelt ist. Perepechai wurde 2022 mit dem DAAD-Preis für ausländische Studierende ausgezeichnet.

Merken Sie diese „Russifizierung“ auch in Ihrem persönlichen Umfeld?

Ich brauche nur das Fotoarchiv meiner Familie zu sichten. Dort ist dokumentiert, dass Russisch in der Sowjetunion stark gepusht wurde. Obwohl all meine Familienmitglieder Ukrainisch gesprochen haben, sehe ich immer noch ab und zu Bildunterschriften auf Russisch.

Einmal habe ich auch ein Papier auf unserem Dachboden gefunden, wo auf einer Seite ein Essay zu Taras Schewtschenko geschrieben wurde – ein ukrainischer Nationaldichter und Maler, eine sehr bedeutende Person. Auf der anderen Seite stand ein propagandistisches Gedicht über die Sowjetunion. So sind die Menschen in der ukrainischen Sowjetrepublik aufgewachsen. Zwischen Nationalidentität und sowjetrussischer Propaganda.

Wie reagieren Sie auf Menschen, von denen Sie auf Russisch angesprochen werden?

Es ist mir schon oft passiert, dass Menschen aus Russland, Belarus oder aus anderen Ländern, die Teil der Sowjetunion waren, mich ebenfalls direkt auf Russisch angesprochen haben, wenn sie meinen Akzent gehört haben. Ich fand das früher schon problematisch, aber jetzt noch mehr, weil sie mir keine Wahl lassen. Sie gehen davon aus, dass ich Russisch sprechen kann und will. Aber momentan will ich das vielleicht nicht.

Sprache ist ein politisches Instrument, besonders in diesem Krieg. Es ist besonders wichtig, die Sachen jetzt richtig zu benennen.

In welcher Form ist Sprache noch politisch?

Besonders im Deutschen werden zum Beispiel topografische Begriffe aus dem Russischen übernommen, obwohl es dafür ukrainische Bezeichnungen gibt. Meistens wird von „Kiew“ geschrieben, dabei ist die Übersetzung aus dem Ukrainischen „Kyjiw“. Ein weiteres Beispiel ist „Tschernobyl“, das auf Ukrainisch „Tschornobyl“ heißt.

Vielleicht ist es nicht das perfekte Beispiel, aber es ist ein bisschen wie beim Gendern. Beim Lesen stößt man auf ein Gendersternchen und hält dadurch inne, wenn man ihm das erste Mal begegnet. So wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass es Menschen gibt, die sich nicht in das binäre Geschlechtersystem einordnen. Vielleicht ist man bei „Kyjiw“ erst einmal verwirrt, aber dann versteht man, dass es einen Grund für diese Schreibweise gibt.

Es ist auch langsam an der Zeit, im Deutschen den Artikel „die“ vor „Ukraine“ wegzulassen. Der Artikel steht im Zusammenhang mit dem historischen Gebiet, das noch keine Grenzen hatte, so wie Putin Ukraine auch heute begreift. Es ist eine akute geopolitische Sprachnuance.

Im Englischen wird „Ukraine“ schon seit längerer Zeit ohne Artikel geschrieben, womit die ukrainische Souveränität anerkannt wurde. Ich hoffe, dass „Ukraine“ ohne Artikel sich bald auch im Deutschen durchsetzt. Das ist wichtig, da nicht nur Russland dekolonisiert sein sollte, sondern auch die russische Sprache.

Sie haben davon erzählt, dass es in der Ukraine in der Vergangenheit vorgekommen ist, dass man schief angeguckt wurde, wenn man Ukrainisch gesprochen hat. In welchen Situationen ist so etwas passiert?

Es gibt regionale Unterschiede und es hat viel der Familie und der Sozialisierung zu tun. In größeren Städten ist es oft so gewesen, dass Kinder in der Schule ausgelacht wurden, wenn sie Ukrainisch gesprochen haben. Deshalb haben sie in der Schule nur noch Russisch gesprochen, zu Hause mit ihrer Familie aber Ukrainisch.

Aufgrund der Russifizierung galt man bei vielen als cool und gebildet, wenn man Russisch gesprochen hat. Ukrainisch zu sprechen war wie eine uncoole Mütze, die man im Winter nach dem Verlassen des Hauses auf dem Weg zur Schule schnell abgesetzt hat, wenn Mama nicht mehr geguckt hat (lacht).

In den letzten Jahren hat sich aber viel verändert. Eine russischsprachige Freundin meinte vor Kurzem zu mir: „Ich habe immer gedacht, dass ich eine russischsprachige Ukrainerin bin. Jetzt verstehe ich, dass ich eher eine russifizierte Ukrainerin bin.“

Den ersten Teil des Interviews können Sie hier nachlesen.

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schon der erste Teil war kaum auszuhalten – besonders der Zusammenhang der Preise in Dt. und der verlorenen Häuser in der Ukraine – die Ursache ist Politik und nicht Naturgewalt – das ist gestaltet und hatte Alternativen wie jeder historische Vorgang – TINA soll mit Maggie in der Hölle schmoren!
in diesem Artikel ärgern mich 2 Dinge – 1. Sprachen differenzieren sich durch Kommunikationshemmnisse – meine VolkUndWelt-Bücher sind zum Teil aus dem „Serbokroatischen“ übersetzt – die Sprache scheint in den 90ern verschwunden zu sein – die Ukraine hat beschlossen, den historischen multisprachichgen (!) Sprachraum Wolhyniens, eines Paul Celan und anderer, zu homogenisieren – soll sie, aber das ist ein Binnenproblem – verbunden mit dem hochkulturellen Akt des Verbots und der Beseitigung russischsprachiger Bücher
2. Ukrainisch spricht außer den Ukrainern kaum jemand – der Kommunikationsraum und damit sprachliche Nutzen ist auch sehr begrenzt – Russisch hingegen sprechen im Osten aufgrund ihrer Schulausbildung noch relativ viele und die Ansprache au Russisch geschieht aus Höflichkeit, weil man sich dem Gesprächspartner aus dem (vermutet slawischen) Osten annähern will – man ersetze einfach mal „Russisch“ in solchen Alltagssituationen durch „Englisch“, um die Haltlosigkeit der Vorwürfe dieser jungen verbitterten und selbstbezogenen Frau zu sehen – es ist nie gut, wenn unvermittelt aus individuellen Befindlichkeiten kollektive Normen postuliert werden
damit keine dummen Vorwürfe aufkommen – ich habe einen sogenannten „migrantischen Hintergrund“ und bin mit den Problemen der Interkulturalität und Intersprachlichkeit bestens vertraut.
Liebe L-IZ, du hackst gern gegen die autoverliebte, schwarze und zukunftsverlorener LVZ. Alle Vorurteile bestätige ich gern. Aber du solltest prüfen, wo bei dir der Bias sitzt und den Blick beim Schreiben trübt. Da halte ich es mit Kästners Kakao.
Freundschaft!

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