Der erste Beitrag, den Anna Perepechai am 28. Februar auf ihrem Instagram-Account „ukraine_leipzig“ teilte, zeigt die ukrainische Flagge. „Diese Seite versteht sich als Austauschplattform für alle, die sich mit der Bewegung für Ukraine solidarisieren wollen“, schrieb sie darunter auf Deutsch und Ukrainisch. Innerhalb eines Tages folgten dem Account 500 Menschen, aktuell sind es 1.600.

Die HGB-Studentin mobilisiert regelmäßig für pro-ukrainische Demonstrationen in Leipzig, dokumentiert diese und bittet um Spenden für die Ukraine. Sie betreibt die Seite bisher allein, ist aber auf der Suche nach Unterstützung und arbeitet eng mit dem „Freundeskreis der Ukraine“ zusammen, der die Demos anmeldet.

Den Krieg bezeichnet Perepechai seit Februar als „full-scale“. Seit Februar ist in Deutschland oft von einem „Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“ die Rede, „doch Russland führt schon seit acht Jahren Krieg gegen Ukraine“, erklärt Perepechai. Und im Deutschen von einem „totalen Krieg“ zu sprechen, sei aus historischen Gründen problematisch. Das Interview fand am 20. Oktober statt.

Wie ist die Instagram-Plattform „ukraine_leipzig“ entstanden?

Am 24. Februar war ich wie alle anderen Ukrainer/-innen in einem Schockzustand. Mein physisches Leben war nicht in Gefahr, deswegen habe ich überlegt, wie ich aus meiner privilegierten Position im Ausland helfen könnte.

Vor Beginn des full-scale war gab es in Leipzig ein paar kleine pro-ukrainische Demonstrationen. Dort bin ich mit den Organisator/-innen ins Gespräch gekommen und habe meine Idee einer Austauschplattform angebracht.

Damals habe ich meine Kamera noch nicht mitgenommen, weil ich während der Maidan-Revolution beschlossen hatte, mich eher als Bürgerin am Protest zu beteiligen. Nach ein paar Tagen habe ich verstanden, dass Hilfsangebote und Informationen über Kundgebungen in Leipzig noch ziemlich chaotisch organisiert waren. Ich wollte eine zentrale Anlaufstelle bieten.

Weshalb ein Instagram-Account?

Während einer Revolution oder, wenn Krieg ist, kannst du auf verschiedene Weisen helfen. Während Maidan 2013/14 habe ich unter anderem für die Protestierenden in Kyjiw gekocht. Jetzt habe ich mich auch gefragt, wie ich helfen kann.

Personenvorstellung: Anna Perepechai ist 1989 in Poltawa, Ukraine geboren und studierte Journalismus in Kiew. 2014 kam sie nach Deutschland. Nach dem Studium in Weimar und Montreal kam sie 2020 nach Leipzig, wo sie Fotografie und Bewegtbild an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) studiert. Seit Februar unterstützt sie geflüchtete Studierende, hat außerdem das deutsch-ukrainische Kunstkollektiv Óstov mitbegründet, das im Kunstaktivismus angesiedelt ist. Perepechai wurde 2022 mit dem DAAD-Preis für ausländische Studierende ausgezeichnet.

Wer folgt „ukraine_leipzig“?

Ich bin überrascht, wie viele deutsche und internationale Personen der Seite folgen, neben Menschen aus Leipzig, Deutschland und Ukraine auch welche aus Polen, Österreich und den USA. Als ich nach Deutschland gekommen bin – kurz nach der Maidan-Revolution – hatten die Menschen hier noch sehr viele Fragen. Dann ging das Interesse zurück.

Die ersten Follower/-innen waren aus meinem persönlichen Kunst- und Kulturumfeld, dann weitete sich der Kreis ziemlich schnell aus. 70 Prozent der Follower/-innen sind Frauen, was kein Wunder ist, da so viele Frauen aus *Ukraine geflohen sind.

Und wer kommt zu den Demonstrationen, zu denen Sie aufrufen?

Meine Erfahrung ist, dass die Demonstrationsaufrufe von Menschen mit sehr verschiedenen Hintergründen online geteilt werden, doch bei der Demo überwiegen dann ukrainische Menschen, die geflohen sind. Ich wünsche mir, dass mehr deutsche Personen die Demos aktiv unterstützen. Besonders jetzt, wenn wir auf anderen Demos verbal angegriffen werden.

Hat sich das Verhältnis der Personen, die zu den Demos kommen, in den letzten acht Monaten in irgendeiner Form signifikant verändert?

Ja, anfangs haben deutlich mehr lokale deutsche Personen und Personen aus internationalen Kreisen demonstriert. Ich glaube, das liegt in der Natur der Dinge. Mit der Zeit „gewöhnen“ sich die Menschen hier an die Kriegsnachrichten und andere Themen werden für sie wichtiger. Dabei ist der Krieg in vollem Gange. Meine Mama hat erst vor wenigen Tagen berichtet, dass russische Kamikaze-Drohnen wieder über unsere Stadt geflogen sind. Es kommen nicht nur weniger Menschen, das Interesse generell nimmt ab. Ich frage mich: Wie lange ist Solidarität haltbar?

Gibt es weitere Gründe, weshalb weniger Deutsche zu den Solidaritätsdemonstrationen kommen?

Ich denke, die Berichterstattung in Deutschland trägt dazu bei. Gerade liegt der Fokus darauf, welche Folgen der Krieg für die Heizkostenabrechnung der Menschen hat. Oft wird nur über die Politik zwischen Russland und dem Westen gesprochen und vergessen, dass sich Ukraine auch deshalb im Krieg befindet. Das ist ein Zeichen dafür, dass die russische Propaganda tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist.

Die Menschen hier können das Leid der Menschen in Ukraine weniger auf sich projizieren als zu Beginn. Wir und unser Krieg sind hier für viele unangenehm geworden. Ukraine ist für sie weit weg genug, um emotionalen Abstand zu halten. Manch einer, der das alles zu Beginn ganz schockierend fand, nimmt jetzt die Position ein, dass Ukraine ihre Gebiete abtreten soll, damit der Krieg endlich vorbei ist.

Oder, dass die Flüchtlinge doch endlich mal nach Hause fahren müssen, da der Krieg nicht mehr so oft in den Schlagzeilen landet. Wenn du aus unterschiedlichen Gründen nichts mehr vom Krieg hörst, heißt das aber nicht, dass er vorbei ist.

In Sachsen hört man in der Öffentlichkeit oft, dass die Bundesregierung mit ihrer Außen- und Energiepolitik Deutschland „unnötig in Probleme bringt“, so nach dem Motto: „Was geht uns die Ukraine an?“

Für uns Ukrainer/-innen war schon nach Maidan und nach der Annexion der Krym klar, dass dieses Problem nicht nur das von Ukraine und Russland ist, sondern sich auf die ganze Welt auswirken wird. Westeuropa hat dieses Problem leider lange nicht als seines angesehen, was gezeigt hat, dass die EU ein nicht sehr stabiles Konstrukt war. Es ist falsch, zu sagen, dass dieser Krieg kein deutsches Problem ist, weil die Bundesregierung nach Maidan immer noch mit Putin verhandelt und Nord Stream 2 auf den Weg gebracht hat, wobei es wirklich ziemlich klar war, wozu das führen kann.

Deutschland hat den Krieg also mitzuverantworten?

Die Bundesregierung hat immer wieder versucht, Putin zu verstehen, während Russland seine terroristische und aggressive imperialistische Außen- und Innenpolitik weitergeführt hat. Es musste erst zu dieser schrecklichen Eskalation kommen, damit wir als Betroffene gehört werden.

Ich finde es absurd, wenn sich Menschen hier beklagen, dass die Preise steigen, während Menschen in Ukraine ihre Häuser verlieren. Unsere Rechnungen werden auch teurer, meine Familie hat bisher kaum Holz gefunden, um unser Haus zu heizen. Inzwischen könnten wir das Haus jede Sekunde verlieren, wie schon tausende Ukrainer/-innen ihre Häuser verloren haben. Haben die privilegierten Deutschen, die sich über die Preise beschweren, diese Gedanken?

Sie rufen zu Spenden für die ukrainische Armee auf, so wie viele Ukrainer/-innen. Wie reagieren Sie auf Menschen, die jegliche Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte ablehnen?

Das LZ Titelblatt vom Monat Oktober 2022. VÖ. 28.10.2022. Foto: LZ

Ohne schwere Waffenlieferungen wird der Krieg viel länger dauern. Ich glaube, es ist wichtig anzumerken, dass die Ukrainer/-innen sich nie ergeben werden. Wir können uns vorstellen, mit einem dauerhaften Krieg zu leben, aber auf keinen Fall unter russischer Regierung.

Unsere Armee hat leider nicht genügend schwere Waffen, Russland hat sie aber, und produziert und kauft sie trotz der Sanktionen weiter. Nach dem Fall der Sowjetunion verfügte Ukraine über etwa ein Drittel des sowjetischen Nukleararsenals. Alle Atomwaffen wurden aber im Rahmen des Budapester Memorandums 1994 abgegeben. Dafür hat Russland versprochen, die ukrainische Souveränität zu wahren. Nach der Krym-Annexion droht Russland jetzt uns und der ganzen Welt mit dem Atomkrieg. Auch deswegen brauchen wir schwere Waffen und internationale Unterstützung.

Schon zu Beginn wurde in Ukraine kritisiert, dass Deutschland viel humanitäre Hilfe leistet und die Geflüchteten stark bei ihrer Ankunft unterstützt – was superwichtig ist –, aber sich mit der Lieferung von Ausrüstung und Waffen schwertut. Genauso wie humanitäre Hilfe liegt es in der Verantwortung aller Menschen, der ukrainischen Armee direkt zu helfen, damit sie sich verteidigen kann.

Was denken die Menschen in Ihrem Umfeld darüber?

Es gibt natürlich unterschiedliche Meinungen, aber viele meiner ukrainischen Freund/-innen, die seit Ende Februar hergekommen sind, rufen immer wieder zu Spenden für Ausrüstung auf, damit sie zurückgehen können. Viele wollen hier nicht sein, sondern zu Hause, bei ihren Familien, sie halten es hier nicht aus.

In meinem nicht-ukrainischen Umfeld unterstützen viele seit Jahren die Ukraine. Ich versuche aber, keine „Blase“ um mich herum zu bauen, und bin offen für Gespräche mit Menschen mit anderen Meinungen. Manchmal ist es kompliziert mit der linken Szene in Leipzig, besonders mit denen, die immer noch rote Flaggen und Hammer und Sichel feiern. Für uns sind das imperialistische Unterdrückungs- und Terrorzeichen. Es ist einfacher, „No Borders, No Nation“ zu rufen, wenn du im privilegierten Deutschland aufgewachsen bist und Russland nicht als Nachbarland hast.

Besonders Ostdeutsche, die über die Sowjetunion eher in Büchern, im Fernsehen, von Brieffreund/-innen oder durch staatlich geplante Reisen erfahren haben, romantisieren oder idealisieren sie immer noch. Die Sowjetunion ist vor über 30 Jahren gefallen, die sowjetische Propaganda lebt aber noch immer.

Letzte Nacht ist in Mecklenburg-Vorpommern ein Heim für ukrainische Geflüchtete abgebrannt. Fühlen Sie sich in Deutschland sicher?

Zettel eines anonymen Passanten am Auto eines ukrainischen Geflüchteten in Leipzig
Dieser Zettel klemmte am Auto eines ukrainischen Freundes von Anna Perepechai in Leipzig. Foto: privat

Momentan fühle ich mich nicht besonders sicher. Ich wurde schon in der Öffentlichkeit beleidigt und ausgelacht, wenn ich Ukrainisch gesprochen habe. Am Auto eines Freundes mit ukrainischem Kennzeichen hing ein Zettel mit der Aufschrift „Asyltouristen, bitte bleiben Sie zu Hause“. Ich trage offensichtliche pro-ukrainische Zeichen nur noch bei Kundgebungen.

War das auch im Februar schon so?

Nein. Nach all den Vorfällen bin ich nachdenklicher geworden. Eine Bekannte wurde in Berlin beim Joggen verfolgt, als sie ein pro-ukrainisches T-Shirt trug. Ihr wurde so etwas wie „Renn weg, sonst vergewaltige ich dich, ukrainische Schlampe“ hinterhergerufen.

Seit Monaten finden in Leipzig rechte „Montagsspaziergänge“ statt, auf denen Russlandflaggen geschwenkt werden. Am 10. Oktober riefen Personen aus der rechten Demonstration „Nazis raus“ und „Ihr Schweine, verpisst euch, ihr lebt auf unsere Kosten“, als sie auf Ukrainer/-innen trafen.

Es sagt viel über das verschobene Bild einiger Menschen von Flucht und Krieg aus. Sie denken, Ukraine ist doch relativ nah und die Menschen haben Autos, mit denen sie herkommen, so schlimm kann es da ja gerade nicht sein. Die können doch einfach nach Hause fahren.

Doch sie wissen nicht, was diese Menschen in ihren Autos erlebt haben. Einige meiner Familienangehörigen sind aus Tschernihiw geflohen. Bei der Flucht wurde eine befreundete Familie mit Kindern vor ihren Augen im eigenen Auto erschossen. Auf der Flucht, mit oder ohne Auto, ist es eine Frage des Glücks, ob du weiterlebst oder nicht.

Seit dem Vorfall am 10. Oktober überlegen einige meiner ukrainischen Freund/-innen, Leipzig zu verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Ich bleibe trotz der Angriffe in Leipzig. Es ist nicht einfach, aber wenn es an einem Ort Menschen gibt, die den Krieg rechtfertigen oder leugnen und Flüchtlinge angreifen, dann wird meine Arbeit genau hier gebraucht. Wir werden sicherlich weiter auf die „Montagsspaziergänge“ reagieren.

*Anna Perepechai benutzt das Wort „Ukraine“ bewusst ohne den im Deutschen üblichen Artikel „die“, da der Artikel ihren Schilderungen nach in Zusammenhang mit dem historischen Gebiet steht, das noch keine Staatsgrenzen hatte, so wie Putin das Gebiet auch heute sehe. „Es ist eine akute geopolitische Sprachnuance. Im Englischen wird ‚Ukraine‘ schon seit längerer Zeit ohne Artikel geschrieben, wodurch die ukrainische Souveränität anerkannt wird. Ich hoffe, dass ‚Ukraine‘ ohne Artikel sich bald auch im Deutschen verwurzelt“, so Perepechai.

„Die Ukrainerin und Leipziger Studentin Anna Perepechai im Interview, Teil 1“ erschien erstmals am 28. Oktober 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 107 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops sowie bei diesen Szenehändlern.

Den Teil 2 des Interviews finden Sie dieser Stelle auf L-IZ.de.

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