Die mutmaßlich rassistischen Brandanschläge in Leipzig-Grünau Ende August beunruhigen Betroffene, doch sie sind angesichts (anderer) existenzieller Ängste kein großes Thema unter geflüchteten Familien in der größten Plattenbausiedlung der Stadt. Sie sorgen sich eher wegen Abschiebungen, Arbeits- und Wohnungssuche und Alltagsrassismus.
Brandsätze aufs Asylwohnheim
Am Abend des 29. August bot sich den Bewohner/-innen der Geflüchtetenunterkunft in der Liliensteinstraße in Leipzig-Grünau ein ungewöhnliches Bild. Vor ihren Fenstern hatten sich im Schein der Straßenlaternen mehr als tausend Menschen versammelt. Zuvor war die Menge, begleitet von Polizei, durch den Stadtteil gezogen und hatte in laut hallenden Sprechchören und auf Plakaten gefordert, „rechte Kontinuitäten“ zu brechen. Auch Pyrotechnik wurde gezündet.
„Viele Kinder, die in der Gemeinschaftsunterkunft leben, haben die Demo als riesigen Spaß wahrgenommen“, erzählt Johannes Kömpf. Er ist Geschäftsführer beim Betreiberverein der Unterkunft. Der 29. August sei für die Kinder aufregend gewesen, wegen des lauten Treibens, aber vor allem auch, „weil Menschen da waren, die sonst weniger in Grünau aktiv sind“. In der Gemeinschaftsunterkunft Liliensteinstraße 15a leben vorrangig Familien. Die „Lilie“, wie sie vom Betreiberteam genannt wird, ist mit etwa 170 Menschen eine der größten Einrichtungen für Geflüchtete in Leipzig.
Der Anlass für die Versammlung in Grünau ist alles andere als spaßig. Ende August versuchten Unbekannte, die Gemeinschaftsunterkunft in der Liliensteinstraße in Brand zu stecken. Sie warfen am späten Abend des 26. August zwei Brandsätze an die Rückseite des Hauses. Ein Bewohner bemerkte den Vorfall und sah ein flackerndes Licht, woraufhin er den Sicherheitsdienst des Hauses informierte. Die Wachleute löschten ein punktuelles Feuer. Verletzt wurde niemand, zu größeren Schäden kam es nicht. Das Landeskriminalamt (LKA) ermittelt seitdem wegen besonders schwerer Brandstiftung.
Zwei Brandstiftungen an einem Wochenende
Am selben Wochenende versuchten Unbekannte, die Kindertagesstätte „Entdeckerland“ in Grünau anzuzünden. Auch hier kam es zu keinen größeren Schäden, lediglich die Eingangstür wies Brandspuren auf. Auch in diesem Fall ermittelt das LKA wegen versuchter Brandstiftung und eines möglichen Zusammenhangs zum Anschlag auf die Unterkunft. Im „Entdeckerland“ werden derzeit ausschließlich ukrainische Kinder betreut.
Laut dem Amt für Jugend und Familie steht die Kita bezüglich des Vorfalls in engem Austausch mit den Eltern. „Insbesondere wurde die Sorge geäußert, dass sich ein ähnlicher Vorfall wiederholen könnte.“ Rund drei Wochen nach dem mutmaßlichen Anschlag veranstaltete die Kita eine Informationsrunde für Eltern. Mit dabei waren Vertreter/-innen der Stadt, die Opferberatung RAA und die Caritas. Zu einem Folgetermin soll die Bürgerpolizistin eingeladen werden.
Einige Tage vor den Brandanschlägen auf die Unterkunft und den Kindergarten brannte die Turnhalle der 100. Grundschule in der Miltitzer Allee. Wie auch die Kita ist die Grundschule nur wenige Gehminuten von der Geflüchtetenunterkunft entfernt. Die Schule ist eine von rund 30 Leipziger Grundschulen, an denen Deutsch als Zweitsprache unterrichtet wird, eine sogenannte DaZ-Schule. Hier lernen überdurchschnittlich viele Kinder aus migrantischen Familien. Der Großteil der Grundschulkinder aus der Geflüchtetenunterkunft Liliensteinstraße beispielsweise besucht die 100. Grundschule.
Angst vor Neonazis wenig präsent
Das LKA gibt bei seinen Ermittlungen bezüglich der Gemeinschaftsunterkunft und der Kita an, dass eine „politisch motivierte Tat nicht ausgeschlossen werden kann“. Einen möglicherweise rassistischen Hintergrund nennt das LKA nicht explizit. In den 90er Jahren griffen Neonazis die Gemeinschaftsunterkunft in der Liliensteinstraße mehrmals mit Pflastersteinen und Knüppeln an, warfen Brandsätze. Der jüngste Anschlag wurde exakt 30 Jahre nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen verübt.
Wie viele Akteur/-innen in Grünau hält Johannes Kömpf vom Betreiber Pandechaion-Herberge e.V. ein rechtes Tatmotiv für sehr wahrscheinlich. „Rostock-Lichtenhagen ist zwar 30 Jahre her, doch wir können uns gut vorstellen, dass sich da Trittbrettfahrer gefunden haben.“ Es sei wichtig und notwendig, dass Menschen, die mit derartigen Haltungen nicht einverstanden sind, das kundtun.
Bei der Demonstration vor der Unterkunft, die vom linken Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ organisiert wurde, hielt Kömpfs Co-Geschäftsführer Alexander Melzer eine Rede. Die Brandsätze bezeichnete er darin als „Spitze des Eisbergs aus Alltagsrassismus, Vorurteilen und gesellschaftlichen Barrieren, die für uns als Mehrheitsgesellschaft oft unsichtbar bleiben“.
Obwohl der Betreiberverein den Gegenprotest befürwortet, stellt Kömpf die Entscheidung, direkt vor der Unterkunft zu demonstrieren, in Frage. „Es kann auf Menschen befremdlich wirken, wenn hunderte Personen vor ihrer Wohnung lautstark demonstrieren.“ Einige Bewohner/-innen hätten am Tag der Demonstration erstmal aufgeklärt werden müssen, was eigentlich passiert sei, woraufhin sich einige erkundigt hätten, ob denn die Täter/-innen schon gefasst seien.
Laut Kömpf haben die Menschen in den Unterkünften das Thema rechte Gewalt weniger auf dem Schirm, entsprechend wenig präsent sei auch eine Angst vor Neonazi-Angriffen. In den Gesprächen mit den Sozialarbeiter/-innen käme eher Alltagsrassismus zur Sprache, beispielsweise Anfeindungen im Bus oder negative Erfahrungen bei Behördengängen. Diese Begegnungen prägten die Bewohner/-innen viel nachhaltiger, berichtet Kömpf. „Wir nehmen nicht wahr, dass jemand angesichts des Anschlags Angst um sein Leben hat.“
Stadt will keine „politische Berichterstattung“
Eine Frau, die seit Jahren ehrenamtlich mit geflüchteten Familien in Grünau arbeitet, bestätigt Kömpfs Eindruck. Sie möchte namentlich nicht genannt werden, um offen von ihren Erfahrungen zu berichten, denn die Stadt habe ein großes Interesse daran, das Image von Grünau aufzubessern.
Die Stadt als Verwalterin von Geflüchtetenunterkünften, Geflüchtetenkitas und DaZ-Schulen finanziert gleichzeitig zahlreiche Integrationsprojekte in Grünau und somit auch die Stellen vieler Sozialarbeiter/-innen.
Wer über die Lebensrealität migrantischer Menschen in Grünau berichten will, merkt schnell, dass sich sowohl die Stadt als auch im Sozialbereich Tätige schwer damit tun, offen zu beschreiben, was ist, um nicht anzuecken. Das hängt auch mit den vielen Schubladen zusammen, in die Grünau seit der Wende gesteckt wird, und die niemand bedienen will, aber gleichzeitig Probleme nicht kleinreden will: sozialer Brennpunkt, Nazi-Kiez, Entstehungsort von Parallelgesellschaften, Auffangbecken für Gescheiterte.
Eine Anfrage bei der Stadt bezüglich eines Vor-Ort-Termins in der „Lilie“ vor dem Hintergrund der Anschläge beispielsweise endet mit dem Versuch seitens des Sozialamts, einen Pressetermin gar nicht erst stattfinden zu lassen. Eine „politische Berichterstattung“ sei nicht gewollt, das Amt könne und wolle sich nicht politisch positionieren, das könne höchstens der Oberbürgermeister.
Mit Überzeugungsarbeit und dem Versichern einer unvoreingenommenen Berichterstattung ist ein Termin schließlich möglich – mit der Bitte, dass „politische Fragen“ nicht gestellt werden, beispielsweise, ob sich die Bewohner/-innen und der Betreiberverein von der Politik gehört fühlten.
Die anonyme, ehrenamtlich Tätige in Grünau bestätigt Kömpfs Ausführungen darüber, wie die strukturelle Diskriminierung und der Alltagsrassismus geflüchteten Familien viel stärker zusetzten als eine mutmaßliche rassistische Anschlagsserie.
Sie kennt einige Familien, die in der „Lilie“ leben, und nennt beispielhaft, was die Leute umtreibt: das große Problem, eine eigene Wohnung zu finden, oder ohne Ausbildung beziehungsweise mit Kopftuch einen Job. Viele hätten Angst vor Abschiebungen. „Die Angst, dass nachts die Polizei kommt und du deine Sachen packen musst, ist größer als die Angst vor Nazis.“
Auch in den Familien, die sie explizit auf den Brandanschlag in der Unterkunft angesprochen habe, schien der Vorfall kaum Thema gewesen zu sein. Dabei sei aber zu beachten, dass viele Familien die Tendenz aufweisen, Probleme gegenüber Behörden und Sozialarbeiter/-innen kleinzureden, um mögliche negative Auswirkungen zu verhindern. „Ich höre anfangs häufig Lippenbekenntnisse, dass ja in Deutschland alles besser sei, doch nach einer Weile sprechen sie dann doch bestimmte Probleme an.“
Debatte über Demo „von außerhalb“
Ein Bewohner der „Lilie“ beschrieb in einem Redebeitrag auf der Demo nach dem Brandanschlag die systemisch bedingten Herausforderungen, vor denen Geflüchtete stünden. „Der Angriff ist ein großes Problem, aber das ist nicht unser größtes Problem“, sagte er.
„Unsere alltäglichen Herausforderungen sind der Wohnungsmarkt und Behördengänge und wir hoffen, dass ihr uns auch dabei unterstützt“, so wandte er sich an die Demonstrierenden.
Dass zur Demo viele Menschen kamen, die sonst wenig vom Stadtteil mitbekommen, ist ebenfalls Thema in Grünau. Das berichtet Maria Habre vom Quartiersmanagement. Unter Bewohner/-innen und Engagierten werde diskutiert, weshalb solch eine Demonstration nur von außerhalb organisiert werden könne.
Und vor allem, warum so wenig explizite Reaktionen vor Ort beobachtet wurden. „Die Frage ist, ob und wie der Demo-Aufruf die Menschen in Grünau überhaupt erreicht hat“, sagt Habre. „Vielleicht müssen Zivilengagement und solidarisches Miteinander mehr thematisiert werden?“
Ein Problem sei auch, dass es neben vielen Engagierten in Grünau Menschen gebe, die sagen, Rassismus gehe sie nichts an – was aber kein spezifisches Problem Grünaus sei, sondern in der breiten Gesellschaft vorzufinden. „Und dann füllen Leute von außerhalb ihren Platz in der Demo.“
„Nazis sind nicht das größte Problem“ erschien erstmals am 30. September 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 106 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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