21 Millionen zusätzliche Fahrgäste hat das 9-Euro-Ticket dem ÖPNV bislang eingebracht. Bahnen und Busse waren teilweise so überfüllt, dass die Fahrer neue Passagiere auffordern mussten, am Bahnsteig zu bleiben und auf den nächsten Zug zu warten.
Den Erfolg des vergünstigten Tickets nicht gefeiert haben die privaten deutschen Busunternehmen, denn die hatten nach Angaben ihres Verbandes starke Rückgänge bei den Buchungen zu verzeichnen. Ob das 9-Euro-Ticket weitergeführt werden könnte, wird aktuell heftig diskutiert.
Der Finanzminister winkt ab und begründet das damit, dass es für den Bund zu teuer sei, zumal ja die Schuldenbremse nächstes Jahr wieder eingehalten werden müsse.
Ex-Finanzminister Schäuble wird’s freuen, dass sein politisches Vermächtnis von den Nachfolgern deutlich mehr gewürdigt wird, als man hierzulande die Erinnerung an Bargeldkoffer pflegt, die Herrn Schäuble einst unter mysteriösen Umständen übergeben wurden.
Die Kritik der Busunternehmen am vergünstigten Ticketpreis ist wenig überraschend. Erstaunlicher ist diejenige von Ulrike Herrmann, einer TAZ-Wirtschaftsredakteurin. Jener TAZ, die sich immer noch als linke Tageszeitung versteht.
In einem Artikel namens „Bloß nicht verlängern“ sah Frau Herrmann das vergünstigte Fahrpreisangebot vor allem als Geschenk an „Schnäppchenjäger“ und glaubte bereits kaum anderthalb Wochen nach dessen Einführung beobachten zu können, dass der Autoverkehr aufgrund des 9-Euro-Tickets nur marginal zurückgegangen sei.
Mit solcher Kritik ist Frau Herrmann zwar nicht allein. Die konnte man ähnlich auch in konservativen Medien lesen. Ihr Artikel unterschied sich dazu höchstens in der Auffassung, dass das 9-Euro-Ticket nur die unvermeidliche Verringerung des Autoverkehrs hinauszögere. Der notwendig werde, um die Klimaziele zu erreichen. Wie genau man jenen individuellen Autoverkehr einschränken könnte, erklärte Frau Herrmann übrigens nicht in ihrem Text.
Der war überhaupt in so vieler Hinsicht elitär, dass ich beim Lesen ungläubig den Kopf schüttelte. Ihr Artikel liest sich wie aus dem Elfenbeinturm – nein, nicht heruntergerufen! – sondern herabgekotzt.
Wieweit das 9-Euro-Ticket dem Klimaschutz half, wird sich erst im Nachgang erweisen. Jedenfalls nicht wenige Tage nach dessen Einführung. Wahrscheinlich wird der Effekt tatsächlich nicht ganz so breit ausfallen wie erhofft. Aber was das Ticket kann, ist: Menschen, die kein oder gar kein oder viel zu wenig Geld haben, Teilhabe zu ermöglichen.
Teilhabe, das ist Reisen zu unternehmen, Freunde, Verwandte zu sehen und sich ein bisschen mehr wie echte Bürger dieser Republik zu fühlen. Günstigere Tickets für ÖPNV bedeutet für jede und jeden in der Grundversorgung ein paar Euro mehr in der Börse zu haben, mit denen Löcher gestopft werden können, es bedeutet vielleicht auch die Chance auf das eine oder andere Bewerbungsgespräch mehr, das bislang aufgrund der Reisekosten nicht dringewesen war.
Wenn solche Texte wie Frau Herrmanns TAZ-Kommentar Teil der linken Antwort auf soziale Probleme darstellen sollen, dann ist es kein Wunder, dass links gerade keiner wählt. Dieses elitäre Links hat dann keine Wähler verdient.
Und uns bleibt die trübe Aussicht darauf, dass die Union, die sich in der Opposition gerade ungefähr so ideenreich gibt wie ein frisch geteilter Zweizeller, in drei Jahren den nächsten Kanzler stellen könnte. Übrigens war die Union natürlich auch jene Partei, für die Herr Schäuble einst jene mysteriösen Bargeldspendenkoffer entgegennahm.
Spannend zu sehen wird auch sein, ob SPD-Minister Heil bei der Änderung von Hartz 4 in das Bürgergeld die Mittel für Mobilität für dessen Empfänger erhöht oder nicht.
„Haltungsnote: 9-Euro-Ticket im Elfenbeinturm“ erschien erstmals am 29. Juli 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 104 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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