In verschiedenen Telegram-Gruppen schildern auch in diesem Sommer wieder Menschen ihre Erfahrungen mit sexualisierten Übergriffen an Badeseen in Leipzig und Umgebung. Von exhibitionistischen Handlungen, starrenden Männern, unerlaubten Fotos und verbalen Belästigungen ist dort die Rede. Laut offiziellen Angaben sind Badeseen aber kein Schwerpunkt für Vorfälle dieser Art. Drei Frauen berichten der Leipziger Zeitung (LZ) von ihren Erfahrungen.
Dies ist ein Text über ein Problem, das vielleicht gar nicht existiert. Das Problem, dessen Existenz infrage steht, heißt: Zunahme sexualisierter Übergriffe an Badeseen in Leipzig und im Leipziger Umland. „Weder die offizielle Kriminalstatistik noch die Netzwerkpartner/-innen des Kommunalen Präventionsrates suggerieren, dass sexuelle Übergriffe an den Leipziger Seen ein akutes Problem sind“, sagt beispielsweise Matthias Laube, Leiter des Ordnungsamtes der Stadt Leipzig, auf LZ-Anfrage.
Daraus ergeben sich zwei Fragen: Handelt es sich bei den Schilderungen sexualisierter Übergriffe, die in verschiedenen Telegram-Gruppen zu lesen und Ausgangspunkt dieser Recherche waren, lediglich um „bedauerliche Einzelfälle“? Und falls das Problem doch akut ist, warum wissen Ordnungsamt und Polizei dann nichts davon?
Die erste Frage kann dieser Text nicht beantworten. Umfragen unter Badegästen durchzuführen, würde den Rahmen sprengen, und Statistiken, die zweifelsfrei Auskunft geben könnten, liegen nicht vor oder anders – mit den Worten des Polizeisprechers Olaf Hoppe – formuliert: „Eine verifizierte Auswertung ist seriös nicht leistbar.“ Über die Antwort auf die zweite Frage lässt sich hingegen spekulieren.
Vorfälle in keiner Statistik
Anlass dazu geben die Schilderungen mehrerer betroffener Frauen, die der LZ vorliegen. Diese berichten von Männern, die gefilmt haben; die mit und ohne Erektion gestarrt haben; die wenige Meter entfernt von ihnen masturbiert haben. Einiges davon ist mit großer Wahrscheinlichkeit strafbar, anderes eher nicht. In keinem Fall hat eine Betroffene eine Anzeige bei der Polizei erstattet. Nichts davon taucht in irgendeiner Statistik auf. Stattdessen warnen sich Personen in unterschiedlichen Gruppen vor Menschen, die beispielsweise masturbierend, starrend oder auch catcallend in Leipzig unterwegs sind.
Ziemlich klar ist die Sache bei öffentlich masturbierenden Menschen. „Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es in Paragraf 183 des Strafgesetzbuches. Ein Mann ist hierbei eine „Person mit männlichem Personenstand“; darüber hinaus ist ein biologischer Penis notwendig. Die Norm ist also ausschließlich für cis Männer und trans Frauen vor der rechtlichen Personenstandsänderung beziehungsweise einer genitalangleichenden Operation anwendbar.
Exhibitionisten an Cossi und Kiesgrube
Opfer einer solchen exhibitionistischen Handlung wurde Luzie, 23 Jahre alt, am Cospudener See. Sie berichtet: „Ich lag allein am Wasser und habe auf eine befreundete Person gewartet. Irgendwann kam ein Mann, der sich so in zehn Meter Entfernung zu mir aufgehalten hat. Das hat mich gewundert, weil an dem Tag wirklich jede Strandnische frei war. Er hat sich dann vor mir einen runtergeholt und mich dabei angeschaut.“
Ähnliches ist der Mutter von Lara passiert. „Sie war vor circa drei Wochen an der Kiesgrube Kleinpösna baden und bemerkte irgendwann einige Meter hinter sich einen Mann, der masturbierte“, schildert die 27-Jährige den Vorfall. „Trotz mehrerer Rufe und Aufforderungen, zu gehen, machte er weiter. Sie ergriff irgendwann die Flucht und fuhr nach Hause. Er stand immer noch da und befriedigte sich.“
Nur zum Gaffen da
Lara kann zudem von unangenehmen Situationen berichten, die sie am Theklaer See selbst erlebt: An einer Stelle, die überwiegend zum Nacktbaden genutzt wird, befinden sich oft komplett bekleidete, männlich gelesene Personen, die „nur zum Gaffen da sind“. Ähnlich wie das sogenannte Catcalling, also das Hinterherrufen und Nachpfeifen, ist dieses Verhalten nur in Ausnahmefällen strafbar.
Kompliziert ist die Rechtslage auch bei Foto- und Videoaufnahmen. „Das ungefragte Fertigen von Fotos zum Beispiel in Badebekleidung kann nach verschiedenen Tatbeständen strafbar sein“, erklärt Polizeisprecher Hoppe. „Hier spielen auch das Recht am eigenen Bild und Verstöße gegen das Kunsturhebergesetz eine große Rolle.“
Luzie, die von dem am Cospudener See masturbierenden Mann berichtet hat, wurde außerdem Opfer einer unerwünschten Videoaufnahme am Theklaer See. Der filmende Mann reagierte zunächst nur mit einem Lachen auf ihre Beschwerde. „Als ich lauter wurde und auf ihn zugegangen bin, hat er irgendwann das Handy runtergenommen und gesagt, dass er mich nicht filmt, sondern mit irgendeiner Person ein Videotelefonat führt.“ Für Luzie war das keine glaubhafte Erklärung: „Ich bin mir absolut sicher, dass er mich gefilmt hat, weil die Kamera die ganze Zeit auf mich gerichtet war.“ Irgendwann ist er lachend weggegangen.
Verzicht auf Anzeige aus Mangel an Beweisen
Fragt man Luzie und Lara, warum die betroffenen Frauen keine Anzeige erstattet haben, erfährt man eine Vielzahl an Gründen. „Ich hatte ja keine Beweise oder Zeugen“, erklärt Luzie zu dem exhibitionistischen Vorfall am Cossi. „Außerdem habe ich meine Wahrnehmung angezweifelt und gedacht: Vielleicht habe ich mich ja nur verguckt.“ Ausschlaggebend sei auch der Wunsch gewesen, sich nicht weiter damit beschäftigen zu müssen. „Ich hatte auch Angst davor, dass mir niemand glaubt und ich Energie investiere und trotzdem nichts passiert.“
Als wenig sensibilisiert in Bezug auf Sexismus beschreibt Lara ihre Mutter, die an der Kiesgrube mit einem Exhibitionisten konfrontiert war. „Sie empfand das als verstörend und potenziell gefährlich, aber nicht als strafrechtlich relevant, weil ja ‚nicht wirklich etwas passiert‘ sei.“ Ähnlich wie Luzie zweifelte Laras Mutter zudem an der Sinnhaftigkeit einer Anzeige, weil es an Beweisen mangelte. „Sie hat auch eine große Scham empfunden, was meinen Beobachtungen nach vermehrt bei Menschen auftritt, die wenig sensibilisiert sind. Man spürt, dass das, was geschehen ist, nicht richtig war, kann es aber gleichzeitig auch nicht als klar falsch einkategorisieren.“
Einen weiteren Grund bringt die 30-jährige Anja ins Spiel: schlechte Erfahrungen. Sie sagt: „Ich habe in meinem Leben bisher eine einzige Anzeige gemacht; da ging es um einen Diebstahl. Ich wurde dort nicht ernst genommen, emotional nicht aufgefangen und mir wurden sogar Vorwürfe gemacht, ich hätte besser aufpassen sollen.“
„Leider nichts Besonderes“
Noch trauriger klingt der zweite Grund, aus dem sie einen Vorfall am Cospudener See nicht angezeigt hat: „Dass so etwas passiert, ist leider nichts Besonderes. Irgendwie gehört es zu meinem Leben dazu, dass ich eklig angemacht werde. Das hat so einen selbstverständlichen Platz, dass ich nicht weiter darüber nachdenke.“
In diesem Fall wurde sie, am Strand liegend, von einem nackten Mann mit halb erigiertem Penis aus zwei bis drei Metern Entfernung angestarrt. Weder Blicke noch Aufforderungen änderten etwas an seinem Verhalten. „Ich habe dann meine Sachen gepackt und bin gefahren. Eine andere junge Frau, die gerade an meinen Platz wollte, habe ich gewarnt. Scheiß ekliger Macker. Wie der mich lüstern angegafft hat – ich könnte echt kotzen.“
Auch wenn das in diesem Fall nicht geholfen hat, empfiehlt Polizeisprecher Hoppe jenen Personen, die von sexualisierten Übergriffen betroffen sind, möglichst selbstbewusst zu reagieren. Tätern gehe es häufig darum, Macht gegenüber scheinbar wehrlosen Opfern auszuüben. Ansonsten sind es die Klassiker, die helfen sollen: andere Personen um Hilfe bitten und notfalls weglaufen. Auch Selbstbehauptungskurse könnten helfen.
Betroffene meiden nun Alleinsein und Nacktbaden
Die betroffenen Frauen haben für sich bereits Lösungen gefunden, um mit einem Problem umzugehen, das laut Ordnungsamt nicht „akut“ ist. Anja hat ihr Badeverhalten nicht grundsätzlich geändert, ist aber aufmerksamer geworden. Luzie geht nur noch in Begleitung zum See, verzichtet aufs Nacktbaden und achtet bei der Platzwahl stärker auf die Menschen in ihrer Umgebung. Lara besucht nur noch belebte Strände, um notfalls „hoffentlich“ Unterstützung zu erhalten, und badet, wenn sie allein ist, nur noch selten nackt. „Beide Entscheidungen entsprechen nicht meinen eigentlichen Bedürfnissen.“
Aus den Gesprächen lassen sich verschiedene Schlüsse ziehen: Das Problem an Badeseen könnte größer sein, als es Statistiken, Rückmeldungen und Anzeigeverhalten vermuten lassen. Das würde aber nicht automatisch bedeuten, dass das Problem an Badeseen besonders groß ist. Generell ist bekannt, dass nur ein Bruchteil aller Sexualstraftaten angezeigt wird. Statistik und Realität gehen also nicht nur an Badeseen möglicherweise weit auseinander.
Bereits 2021 hatten sich Betroffene in Telegram-Gruppen zusammengeschlossen, um Lösungen gegen Übergriffigkeiten an Leipziger Badeseen zu entwickeln. Dabei wurde auch der Vorschlag eines „FLINTA*-Strandabschnitts“ am Cospudener See eingebracht, der mittels Schildern oder auch Bewachung ein sichereres Badevergnügen schaffen sollte. Bis zur Umsetzung dieser Idee kam es jedoch bis heute nie.
Jugendparlament beantragt Kampagne
Hilfreich könnte ein Antrag des Jugendparlaments sein, für Betroffene und Zeug/-innen sexualisierter Übergriffe in Verkehrsmitteln und auf dem Heimweg eine Kampagne zu entwickeln, die Möglichkeiten aufzeigt, wie man sich verhalten kann. Das Ordnungsamt schlägt vor, diese Kampagne nicht nur auf Vorfälle im ÖPNV zu beschränken, sondern auf den gesamten öffentlichen Raum auszuweiten. Self-Empowerment und Zivilcourage sollen Schwerpunkte der Kampagne sein. Der Stadtrat muss nach der Sommerpause darüber entscheiden. Marlen Ristola, die Sprecherin der AG Frauen- und Queerpolitik der Grünen in Leipzig, hat auf LZ-Anfrage die Übergriffe verurteilt und Interesse am Thema gezeigt. Andere demokratische Parteien blieben eine Antwort schuldig.
Schlussendlich eint alle Ratschläge und Initiativen, dass die Verantwortung von den Tätern zu Betroffenen und Unterstützer/-innen verschoben wird. Sie sollen selbstbewusster werden, die Situation verlassen oder lernen, im Notfall einzugreifen. Das grundsätzliche Problem sexuell übergriffiger Männer bleibt jedoch bestehen.
„Drei Frauen berichten von Erfahrungen mit Exhibitionisten und Spannern an Leipziger Badeseen“ erschien erstmals am 29. Juli 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 104 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
Keine Kommentare bisher
Passt natürlich der Vorschlag des Oben ohne Badens ideal dazu. Die Spanner jubeln jetzt schon. Fährt am Cossi nicht die Polizei mit dem Fahrrad Streife?