„Abschiebeflug nach Ruanda gestoppt“ – so und so ähnlich klangen die Schlagzeilen, die mich vor ein paar Tagen aufatmen ließen. Großbritannien wollte illegal eingereiste Asylbewerber/-innen nach Ruanda ausfliegen, unabhängig davon, wo die Menschen herkommen. Dort sollten sie dann einen Asylantrag stellen, hatten die Länder sich geeinigt.
Mitte Juni sollte der erste Flieger mit 31 Menschen an Bord starten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stoppte das Vorhaben in letzter Minute. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Pläne auf dem Stapel der verworfenen Ideen gelandet wären. Großbritannien hält weiter daran fest, Medienberichten zufolge soll es 130 solcher erzwungenen Ausreisen geben.
Die Pläne der Britischen Regierung haben erstmal nicht viel damit zu tun, wie es uns in Leipzig geht. Vielleicht atmen wir auf, wenn derart unmenschliche Ideen scheitern, anschließend gehen wir weiter dem Tagesgeschäft nach. Vielleicht hören wir die Nachricht gar nicht, vielleicht entlockt sie uns nicht mal ein Schulterzucken.
Und vielleicht sind wir dermaßen verroht und rassistisch, dass wir wütend auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dessen Entscheidung schimpfen und uns wünschen, dass Europa noch mehr Zufluchtsuchende abweist.
Ich denke, dass jede dieser möglichen Gefühlsregungen Einfluss darauf hat, wie es uns in Leipzig geht. Die Frage nach Gesundheit und Wohlbefinden hat in meinen Augen sehr viel damit zu tun, welche Rechte, Möglichkeiten und Teilhabe wir geflüchteten Menschen zusichern. Mehr noch: Die Frage, wer alles Teil des „wir“ ist – und wer nicht – ist entscheidend dafür, wie gut es „uns“ geht.
Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die ihr Möglichstes tut, damit alle Menschen sich so gut wie möglich fühlen können? Oder bevorzugen wir eine Gesellschaft, die Merkmale und Grenzen festlegt, durch die Wohlbefinden für einige Menschen schwer bis unmöglich wird?
Isolation hinter der Stadtgrenze
Mein Aufatmen nach der Nachricht aus Großbritannien war nur von kurzer Dauer. Wenig später landete eine Pressemitteilung des Sächsischen Flüchtlingsrates auf meinem Bildschirm. Ein Geflüchteter sei in der Aufnahmeeinrichtung in Dölzig von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes geschlagen worden, heißt es darin.
Neben der Mitteilung ist ein Bild des Verletzten, dessen Augenhöhle dem Flüchtlingsrat zufolge gebrochen und dessen Augapfel verletzt worden ist. Später am Tag erfahre ich über den MDR, dass es laut Polizei „wechselseitig begangene Körperverletzungen“ gegeben haben soll, wobei seitens der Security niemand ärztliche Behandlung benötigt habe.
Es ist nicht der erste Bericht von schlechten Zuständen in der Dölziger Geflüchtetenunterkunft. Zu Beginn der Corona-Pandemie hatten Bewohner/-innen die Verhältnisse dort beklagt. Ein Mann, der daran beteiligt war, wurde zeitweise in eine Unterkunft für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Chemnitz verlegt. Man habe ihn zur Bestrafung isoliert, hatte er damals mitteilen lassen.
Dölzig zählt offiziell nicht mehr zu Leipzig, sondern ist ein Ortsteil von Schkeuditz. Vor Ort fragt man sich, ob das auch für die Unterkunft gilt – schließlich liegt der kastige Bau nicht etwa in der Ortschaft, sondern in einem kargen Industriegebiet. In der Nähe der Einrichtung gibt es eine Bushaltestelle, von der aus man zu Stoßzeiten stündlich nach Schkeuditz fahren kann.
Ein Stück weiter, an der Merseburger Chaussee, fahren die Busse öfter – für viele der Geflüchteten jedoch nur in Richtung Leipzig, denn noch vor der Autobahn 9 endet mit Sachsens Landesgrenze auch der Bereich, in dem sie sich laut Residenzpflicht aufhalten dürfen. Bis zum Hauptbahnhof kostet eine Fahrt 3,70 Euro für eine erwachsene Person. Worauf ich hinauswill: Ein großer Schritt Richtung Isolation ist bereits damit getan, dass Geflüchtete in der Dölziger Unterkunft leben müssen.
Ein „Wir“, das ausgrenzt, will ich nicht
Andere Unterkünfte in und um Leipzig mögen näher an der Stadt sein, sind aber ebenso Teil des Systems, das Menschen aufgrund von Herkunft und Aufenthaltsstatus aus dem „Wir“ ausschließt. Das „Wir“ dieses Systems zuckt mit den Schultern, wenn „denen“ Teilhabe und Wohlbefinden verwehrt werden, wenn „die“ ausgegrenzt und abgeschoben werden.
Wer von „uns“ hat aufgehorcht, als, ebenfalls Mitte Juni, 24 Menschen vom Flughafen Leipzig/Halle nach Tunesien abgeschoben worden sind? Wer hat sich gefragt, was genau die Landesdirektion meint, wenn sie sagt, von diesen 24 Personen seien zwölf aus Sachsen und davon wiederum zehn Straftäter gewesen? Wer hat sich gefragt, welche Straftat es rechtfertigt, einen Menschen in ein Land zu schicken, in dem er offenkundig nicht leben will, vielleicht nicht einmal leben kann?
Vor ein paar Jahren habe ich mit zu denjenigen in Leipzig gehört, die gegen Abschiebungen protestieren. Rund 50 bis 100 Menschen kommen immer wieder zusammen, um zu zeigen, dass sie nicht mit Abschiebeflügen, beispielsweise nach Afghanistan, einverstanden sind. Als Journalistin habe ich mich mittlerweile komplett aus dem Aktivismus zurückgezogen. Was geblieben ist, ist die Wut darüber, wie „wir“ hinnehmen, wie mit Geflüchteten umgegangen wird.
Hinzu kommt Angst, dass „wir“ mit Unmenschlichkeit reagieren, wenn neue Krisen und schließlich die Klimakatastrophe noch mehr Menschen zur Flucht zwingen. Ich glaube, um diese Krisen zu meistern – oder auch nur ansatzweise gut aus ihnen herauszukommen – braucht es ein „Wir“, dessen Ziel das Wohlbefinden aller und wirklich aller ist.
„Wie geht’s dir, Leipzig? (11): Die Grenzen des Wohlbefindens“ erschien erstmals am 24. Juni 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 103 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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