„Wir müssen den Begriff Heimat positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist. Und, dass er ausdrückt, dass Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben wollen. Das wäre ein Gewinn für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Die Reaktionen auf diesen Tweet von Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 17. Mai ließen nicht lange auf sich warten. Manche fielen zustimmend aus, viele aber eher kritisch: Relativismus „unserer“ Kultur und Werte (was immer das sein soll) warf ihr das politisch rechte Lager vor, während Linke mitunter allein schon den Begriff für die Ausgeburt von völkischem Denken und Exklusion halten, der etwa Menschen mit Migrationsgeschichte ausschließen würde.
Die letzten Jahre war es in der Debatte etwas still geworden: Heimat, was ist das eigentlich? Zeit, mal einen unverkrampften Blick auf diese Frage zu werfen. Und der beginnt bewusst subjektiv.
Keine „konservierte Welt von gestern“
In Kürze ziehe ich um, wenn auch nicht weit weg, nur aus einem Stadtviertel in ein anderes. Ich sitze schon auf gepackten Kisten und je näher der Umzugstag rückt, desto bewusster wird mir – bei aller Vorfreude – dass ich meinen Noch-Wohnort der letzten mehr als sieben Jahre durchaus vermissen werde: Die entfernten Stimmen aus dem Nachbarhaus, die mehr oder minder erfolgreichen Gesangsübungen, die von irgendwoher an mein Ohr dringen, den Blick aus dem Fenster zum Spätverkauf nebenan, das laute Schnacken und Lachen der Menschen, die dort auch am Abend und in der Nacht noch zusammenhocken.
Es sind Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener Sprachen und Hautfarben, die man hier öfter sieht und von denen vermutlich viele, so wie ich, das Viertel, den Ort für sich als eine Heimat bezeichnen. Ausgrenzung kann ich dort jedenfalls nicht sehen – und schon gar keine „konservierte Welt von gestern“, wie es ein Twitter-Nutzer unter Faesers Post schrieb.
„Heimat“ im Zangengriff der Politik
Dass es bis heute oft anders gesehen wird, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass „Heimat“ als Begriff schon in der Geschichte politisch nur allzu gern gekapert wurde und mit Ausgrenzung und Leid verbunden ist.
Gerade völkisch-rechte Bewegungen nutzten und nutzen ihn zur Mobilisierung einer Abwehr gegen Verwerfungen der Moderne und das angeblich Fremde. Im Ersten Weltkrieg war von einer „Heimatfront“ die Rede, um die Kampf- und Opferbereitschaft auch der Zivilbevölkerung anzustacheln.
Doch auch im entgegengesetzten Spektrum gab und gibt es einen historisch gewachsenen Diskurs zum Thema. „Ubi bene ibi patria – wo es uns wohl geht, das heißt, wo wir Menschen sein können, da ist unser Vaterland“, formulierte es der SPD-Gründervater Wilhelm Liebknecht (1826–1900) in gezielter Ablehnung des bürgerlichen Nationalstaats.
Später griff auch die DDR das als konservativ verschriene Konzept auf und versuchte, es im Sinne einer „sozialistischen Heimat“ neu zu besetzen: die Ausgestaltung einer kleinräumigen Lebenswelt und Gemeinschaft im Sinne der Ideologie.
Eine feste Bestimmung gibt es nicht
Wenn politisch von Heimat die Rede ist, geht es um einen gezielten Appell an innere Emotionen – die teilweise heftigen Reaktionen in der Debatte zeigen das nur zu eindrücklich. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach in seiner viel beachteten Zeitenwende-Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar davon, dass die Menschen in der Ukraine nicht nur ihre Heimat verteidigen, sondern auch für Freiheit und Demokratie kämpfen.
Aber nicht allein die Politik, auch Medien, Werbung, PR und Marketing haben „Heimat“ längst für sich entdeckt. Heimat ist also primär ein emotional besetzter Ausdruck, mit dem jeder Mensch etwas anderes verbindet und der für viele – wenn auch nicht immer und zwingend – eine positive Konnotation beinhaltet.
Er ist komplex, formenreich und gehört zu jenen Begrifflichkeiten, von denen wir sofort eine Idee haben und die doch niemand so richtig klar definieren kann. Oder versuchen Sie mal „Liebe“ oder „Zeit“ so richtig zu erklären!
Freiheit vom Erwartungsdruck
Heimat hat mit der individuellen Biografie zu tun, mit der eigenen Geburt, der Herkunft, Kindheit und Sozialisation, der Familie, den Freunden, den Orten, an denen man lebt und gelebt hat.
Heimat kann mit einem geografischen Raum verbunden sein oder vielen, also auch im Plural gedacht werden. Er kann sich beim einzelnen Menschen in bestimmten Gefühlen manifestieren, in Liedern, Gedanken, Erinnerungen, Gerüchen, Speisen, Mitmenschen, Worten, Mundarten oder Ritualen.
Und er hat mit dem Empfinden der Geborgenheit zu tun, dem sicheren Gefühl, so genommen zu werden, wie man eben ist, ohne Verstellung. Das könnte auch die Wichtigkeit von Heimat erklären – müssen wir uns doch im Druck der modernen Welt (scheinbar) allzu oft der realen und vermeintlichen Erwartung anpassen, ob als Schüler, Arbeitnehmer oder Konsument.
Das macht das höchst vertraute Habitat dessen, was wir mit Heimat meinen, umso bedeutsamer: der Ort, wo wir als soziales Wesen Halt und Zugehörigkeit finden.
Nicht umsonst ist der weltberühmte Song „Take Me Home, Country Roads“ von John Denver (1943–1997) bis heute ein beliebter Ohrwurm und Evergreen, der das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung so simpel und einprägsam verarbeitet.
Heimat ist nicht „typisch deutsch“
Die Annahme, wonach der Heimatbegriff mit all seinen Facetten etwas typisch Deutsches sei, wird daher von der Forschung zunehmend kritisch hinterfragt – auch wenn das Fehlen eines analogen Worts abseits der deutschen Sprache lange als Indiz galt. Doch aus Sicht vieler Psychologen und Kulturanthropologen stellt Heimat eine grundlegende Konstante der menschlichen Identität dar, unabhängig von Kultur- und Sprachraum.
Dass „Heimat“ in der allgemeinen Wahrnehmung dennoch bis heute oft als „typisch deutsch“ gilt, ist sicher auch auf die Geschichte zurückzuführen. Neben der beschriebenen Instrumentalisierung spielt dabei vielleicht die jahrhundertelange Kleinstaaterei Deutschlands eine Rolle: Die fehlende Einheit machte bestimmte Orte, Städte und regionale Strukturen umso gewichtiger.
Womöglich liegt unter anderem hier ein Keim der gewissen Enge, Staubigkeit und Provinzialität, die dem Heimatbegriff speziell in der deutschen Perspektive anhaftet.
Rastloser Mensch auf der Suche nach Halt
Doch beweist nicht zuletzt der jüngste Tweet der Bundesinnenministerin, dass sich die allgemeine Wahrnehmung offenbar wandelt und das, was wir mit Heimat meinen, wieder mehr in den Fokus gerät. Ein Phänomen, das auch für Psychologen gut begründbar ist: Gerade die Globalisierung und die zunehmende Unübersichtlichkeit befeuern die Suche des Einzelnen nach seinen Wurzeln, nach Sicherheit und Rückhalt. Dieser Prozess läuft freilich nicht erst seit kurzem ab, im Gegenteil.
Schon 2003 vertrat der Philosoph Odo Marquard (1928–2015) unter dem prägnanten Buchtitel „Zukunft braucht Herkunft“ die These, nur wer wisse, wo er herkommt, könne sich in der Gegenwart verorten und Pläne für die Zukunft ausarbeiten.
Und die sich schon damals seit Jahren und Jahrzehnten massiv beschleunigende Umwälzung der Lebenswelten etwa durch das Internet, die Digitalisierung, Wirtschaft und Globalisierung zwingt den Menschen, so die These weiter, in die Rolle des Suchers, der sich in all der Dynamik nach Beständigkeit und Konstanz umschaut. Den Ausgleich fände der Getriebene letztlich im Vertrauten.
Diese Auffassung, welche die Funktion des Geschichtsbewusstseins erklären wollte, wird als „Kompensationstheorie“ bezeichnet – und als sie veröffentlicht wurde, schienen eine weltweite Pandemie oder ein Angriffskrieg in Europa wohlgemerkt völlig absurd.
Wenn die Heimat streitig gemacht wird
Derzeit, zumal unter dem belastenden Eindruck der nach wie vor nicht bewältigten COVID-19-Pandemie, dem Ukraine-Krieg und der Angst vor den Folgen des Klimawandels, könnte sich die Suche nach der individuellen Heimat tendenziell verstärken – auch in der Zukunft. Daran ist im Prinzip nichts verkehrt, strebt man doch als Mensch eben naturgegeben nach stabiler Verortung.
Die Ministerin hat das erkannt und prinzipiell ist ihre Aufforderung richtig, den Heimatbegriff von seinem alten Muff zu befreien. Schließlich gibt es auch in Deutschland viele Menschen beispielsweise mit Flucht- und Migrationsgeschichte, die hier längst eine Heimat gefunden haben, die ihnen aber von rechts außen noch immer streitig gemacht werden soll.
Kritisch zu sehen ist der Tweet Faesers trotzdem, unter anderem, weil die positive (Um)Deutung des Heimatbegriffs in der Gesellschaft längst vielfach gelebte Praxis ist – ganz ohne Zutun der Politikerin, deren Wortwahl hier doch ein wenig in die Irre führt.
Lokale und Kosmopoliten
Keine Frage: Natürlich wird es immer die lokal Verwurzelten geben, die auf Vertrautes setzen und sich kaum Neues aneignen müssen oder können, das mal zur Heimat werden kann. Dem gegenüber stehen die Kosmopoliten, die sich immer wieder aufmerksam ihrer eigenen Wurzeln besinnen sollten, um sich nicht komplett zu verlieren. Weder das eine noch das andere ist per se positiv oder negativ – am Ende muss jeder Mensch den für sich richtigen Pfad beschreiten.
Trotzdem: Die funktionierende Kombination aus den beiden – hier überspitzt dargestellten – Positionen zu finden, wird wohl auch künftig eine der Herausforderungen des modernen Individuums. Heimat als höchstpersönliche Empfindung und nicht-festes Konstrukt sollte in jedem Fall ihren Platz haben, aus dem wir für uns Kraft und gesunde Selbstgewissheit beziehen, ohne vor den Karren politischer Taktiererei gespannt zu sein.
Denn es geht um etwas Privates, etwas Inneres, was unseren eigenen Kern ausmacht. So gesehen, möchte man jedem Menschen zurufen: Sei dein eigener Innenminister oder deine eigene Innenministerin!
„Wo ist eigentlich die Heimat zu Hause? Gedanken zum schwierigen Heimatbegriff“ erschien erstmals am 27. Mai 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 102 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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