Küf Kaufmann ist seit 2005 Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und Präsidiumsmitglied des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde in Sachsen. Im Gespräch mit der Leipziger Zeitung (LZ) redet Kaufmann über die Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen Gemeinde zu Leipzig. Dabei spricht er neben Antisemitismus und der Wichtigkeit des Gedenkens vor allem über das bunte und vielseitige Leben in seiner Gemeinde.

Guten Tag, Küf Kaufmann. Wie viele Mitglieder hatte die jüdische Gemeinde in Leipzig vor der NS-Zeit? Wie aktiv prägte die jüdische Gemeinde das Leipziger Stadtbild?

Ja, ich weiß, dass für Journalisten Wikipedia keine sichere Quelle ist, aber ich stütze mich auch auf Wikipedia. Dort sagt man, dass 1925 die Gemeinde aus ca. 13.000 Mitgliedern bestand. 1938 sicher viel mehr. Und dann wissen Sie, was mit dem Judentum in Europa passiert ist.

Unsere Vergangenheit gerät nie in Vergessenheit und schlechte und gute Zeiten bleiben für uns das Fundament für den Blick in die Zukunft. Die Gemeinde von damals ist nicht vergleichbar mit der Gemeinde von heute. Die heutige Gemeinde befindet sich trotz kommender Generationen in einem Integrationsprozess.

Wie viele Mitglieder hat die jüdische Gemeinde in Leipzig heute? Gibt es jüdische Familien in Leipzig, die seit vielen Generationen hier leben und sogar die NS-Zeit hier überwunden haben oder zurückgekehrt sind?

Heute besteht die jüdische Gemeinde aus rund 1.200 Mitgliedern. Unsere starke körperliche und geistige Verbindung zu unserer eigenen Geschichte ist unser Ehrenvorsitzender Rolf Isaacsohn, der als Kind die brennende Synagoge in der Gottschedstraße mit eigenen Augen gesehen und die Deportation zusammen mit seinem Vater erlebt und überlebt hat.

Nach allen dramatischen Erlebnissen und schicksalhaften Wendungen ist er mit seinem Vater nach der Befreiung aus dem KZ praktisch zu Fuß nach Leipzig zurückgekehrt. Ich erinnere mich, dass ich ihn vor ungefähr 25 Jahren gefragt habe: „Warum? Warum nach Leipzig?“ Er antwortete: „Wohin sonst? Ich bin nach Hause gekommen.“

Heute, zusammen mit allen unseren Unterstützern, versuchen wir, alles zu tun, damit das Leipziger Judentum sich in unserer Stadt zu Hause fühlt.

Wie hat sich die jüdische Gemeinde in Leipzig in den letzten Jahren verändert? Gab und gibt es auch Zuzüge von Bürger/-innen jüdischen Glaubens nach Leipzig?

Anfang der 90er Jahre zählte die Gemeinde 25 Mitglieder. Mit dem Zuzug der sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die Gemeinde rasch an. Heute befindet sich die Gemeinde in Bewegung – manche gehen, manche kommen, aus beruflichen oder privaten Gründen.

Die Leipziger Jüdische Gemeinde ist ein ganz besonderer Organismus. Sie ist ein intensives, traditionelles religiöses Leben und weltoffen. Der Tradition folgend und in die Zukunft blickend.

Wir sind eine Familie! Wir sind deutsche, ukrainische, russische, georgische und usbekische Juden. Juden aus Israel, Kanada und Mexiko. Und natürlich aus Ungarn – und das ist Gemeinderabbiner Zsolt Balla!

Wie sieht das Leben in der jüdischen Gemeinde aus? Feiern Sie Feste gemeinsam? Wie verbringen Sie und die anderen Gemeindemitglieder Ihre Woche? Was sind die wichtigsten Orte für die Gemeinde?

Selbstverständlich lebt eine Religionsgemeinde hauptsächlich vom Ritus. Es gibt reguläre Gottesdienste, Bar- und BatMizwa, Feiertage werden gefeiert. Wenn Menschen zur Welt kommen, begrüßt man sie mit Freude, wenn Menschen die Welt verlassen, werden sie würdig verabschiedet.

Der wichtigste Ort für die Gemeinde ist selbstverständlich die Synagoge, aber auch das Zentrum Jüdischer Kultur „Ariowitsch-Haus“, das übrigens nicht nur für die Gemeinde zur Verfügung steht, sondern für alle Leipziger/-innen und Gäste dieser Stadt.

Jüdisches Leben ist aber leider auch oft verbunden mit Diskriminierung. Tragen Gemeindemitglieder Erfahrungen mit Antisemitismus an Sie heran? Wie wird dieses Problem in der Gemeinde thematisiert?

Jeder jüdische Mensch auf dieser Welt, auch die Gemeindemitglieder, hat leider so oder so diese negative Erfahrung gemacht. Das heißt nicht unbedingt, ein Pogrom zu erleben, aber seelische Verletzungen hat man schon. Manchmal geht man kämpferisch „auf die Barrikaden“, manchmal schluckt man es runter.

Aber die Bekämpfung des Antisemitismus ist nicht nur die Sache der Gemeinde, es ist eine Sache der Gesellschaft. Und da steht das Team des Ariowitsch-Hauses mit seinen zahlreichen Projekten an vorderster Front.

Haben Sie den Eindruck, dass der Antisemitismus in den letzten Jahren noch einmal zugenommen hat? Herrscht vielleicht sogar ein Klima der Angst unter den jüdischen Leipziger/-innen? Eventuell im Rahmen der Corona-Proteste?

Der Virus des Antisemitismus lebt in der Gesellschaft schon viel länger als der Corona-Virus. Und die Heilung dieser Krankheit ist viel schwieriger, als im Corona-Fall.

Als Corona begonnen hat und die ganze Welt die armen Chinesen beschuldigte, haben manche Gemeindemitglieder gewitzelt: „Gott sei Dank sind wir nicht schuld.“ Aber es hat nicht lange gedauert, bis die ersten jüdischen Verschwörungstheorien aufkamen. Dann haben diese Gemeindemitglieder ironisch gesagt: „Jetzt sind wir doch wieder wichtig.“

Wie Sie bereits sagten, betrifft Diskriminierung ja nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern die ganze Zivilgesellschaft und Demokratie. Denken Sie, dass die Stadt Leipzig und die Zivilgesellschaft hier genug gegen Antisemitismus tun? Was wünschen Sie sich noch mehr?

Es ist nie genug. Aber meine Worte richte ich nicht nur an die Zivilgesellschaft oder die Politik. Ich richte sie an mich selbst. Man kann nie sagen, es kann nicht besser sein – es kann immer besser sein. Zum Beispiel Bildung: Man sollte bei den kommenden Generationen bereits einen gesunden Samen gegen alle antisemitischen und menschenfeindlichen Ideologien säen, diesen hegen und pflegen, um dann eine gesunde Ernte zu erhoffen.

Zuletzt muss ich noch kurz fragen, was es mit dem Bild hinter Ihrem Schreibtisch auf sich hat?

Dieses Bild habe ich von meinem Freund, dem berühmten sächsischen Kabarettisten und Autor Bernd-Lutz Lange geschenkt bekommen. Es ist in Jerusalem vor der Klagemauer aufgenommen und trägt für mich in sich eine große Symbolik. Trotz aller dramatischen Ereignisse in der jüdischen Geschichte gibt es immer Hoffnung für die Zukunft.

So steht hinter dem Rücken der Erwachsenen ein kleiner Junge, der in seinen Händen ein altes Gebetbuch fest vor den Augen hält.

***

Küf Kaufmann – eine bewegte Biographie

Als langjähriger Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig gehört Küf Kaufmann selbst zu den jüdischen Zuwanderern „der ersten Stunde“. Kaufmann wurde am 6. Mai 1947 in Marx an der Wolga in Russland als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater war Ingenieur, und seine Mutter war Musik- und Klavierlehrerin für Vorschulkinder.

Der Titel der 102. Ausgabe der LZ, seit 27. Mai 2022 im Handel. Foto: LZ

Im Jahr 1949, als Kaufmann zwei Jahre alt war, zog die Familie in die Ukraine, in die Stadt Melitopol, wo sein Vater als Chefkonstrukteur in einem Motorenwerk arbeitete. In Melitopol besuchte Kaufmann die Schule und schloss sie mit einer Silbermedaille ab. In dieser Zeit gründete er auch seine erste Kindertheatergruppe und erzielte erste Publikumserfolge.

Im Jahr 1967 ging Küf Kaufmann nach Leningrad und trat das Studium an der Hochschule für Kultur und Kunst an. Nach seinem Abschluss ging er 1971 in die Hauptstadt der Republik Karelien, Petrosawodsk, um das Volkstheater zu leiten, wurde aber nur sechs Monate später zum Militärdienst einberufen. Küf Kaufmann absolvierte seinen Militärdienst als Soldat im Gesangs- und Tanzensemble des Leningrader Militärbezirks.

Nach dem Militärdienst wurde er inszenierender Regisseur der Leningrader Musik-Hall (Staatliches Revue Theater) und widmete diesem weltberühmten Ensemble fast 20 Jahre seines Lebens. Neben den vielen Auslandstourneen nahm die langjährige Zusammenarbeit mit dem Berliner Friedrichstadtpalast einen besonderen Platz in seiner Biographie ein. Als in den späten 1980er Jahren in der UdSSR eine Welle des Antisemitismus ausbrach und die Familie Kaufmann beschloss, die UdSSR zu verlassen, sahen sie ihre künftige Heimat nur noch in Deutschland, einem Land, das offen und überzeugend gegen jegliche Erscheinungsformen des Antisemitismus auftrat.

Am 14. September 1989 beantragte und erhielt Küf Kaufmann eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in der DDR. Dann kam die Wiedervereinigung. Im Jahr 1991 ließ sich die Familie Kaufmann in Leipzig nieder. Küf Kaufmann wurde Mitglied der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und tauchte sofort in deren gesellschaftliches Leben ein. Er wurde Sponsor und Mitorganisator vieler kultureller Veranstaltungen. Küf Kaufmann war auch weiterhin künstlerisch tätig.

Die Begegnung mit dem berühmten sächsischen Autor und Kabarettisten Bernd-Lutz Lange markierte einen Wendepunkt in seiner Biographie, aus der sich eine starke künstlerische und menschliche Freundschaft entwickelte. Bernd-Lutz Lange und Küf Kaufmann gestalteten das Programm „Fröhlich und Meschugge“, das sich mit der Ähnlichkeit von sächsischem und jüdischem Humor beschäftigte. Sieben Jahre lang war es ein Highlight des Leipziger Kabaretts „Pfeffermühle“. Es wurde bundesweit auf zahlreichen Bühnen präsentiert. Noch heute existiert es in einer konzertanten Aufführung und wurde 2021 beim renommierten Kurt-Weil-Festival erfolgreich aufgeführt.

Küf Kaufmanns Buch „Wodka ist immer koscher“ ist 2011 im Berliner Aufbau Verlag erschienen, und er liest regelmäßig vor einem breiten Publikum aus diesem ironischen und leicht traurigen Roman. Vor ein paar Jahren hat Küf Kaufmann dieses Buch in der Sächsischen Landesvertretung in Berlin präsentiert. Im April dieses Jahres fand im Kulturprogramm der Sächsischen Landesvertretung in Berlin eine Aufführung des Gedichtzyklus „Jerusalem“ in Begleitung mit dem Trio „Klangprojekt“ und zeitgenössischer Musik statt.

Küf Kaufmann ist überzeugter Verfechter im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Art von menschenfeindlichen Ideologien. Er ist klarer Befürworter für interreligiöse Dialoge und interkulturelle Annäherung der Menschen unterschiedlicher Sozialschichten, Kulturen und Herkunft. Dies spiegelt sich stark in seiner künstlerischen und gesellschaftspolitischen Tätigkeit wider.

„Wir sind eine Familie! – Küf Kaufmann im Interview über die jüdische Gemeinde zu Leipzig“ erschien erstmals zum Schwerpunktthema am 27. Mai 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 102 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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