Am vergangenen Sonntag, 12. Juni 2022, wurde auf dem Leipziger Marktplatz die „Johannes Passion à trois“, eine Bearbeitung der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, im Rahmen des Bachfest Leipzig aufgeführt – ein außergewöhnliches musikalisches, aber auch geistliches Ereignis. Dazu ein paar Gedanken:

Darf man das: Die Johannespassion von Johann Sebastian Bach einkürzen und von nur drei Musiker/-innen aufführen lassen: ein Sänger, eine Orgel- und Cembalo-Spielerin, ein Mann am Schlagwerk?

Darf man das Leiden und elende Sterben Jesu an einem lauen Sommerabend auf dem Marktplatz zwischen flanierenden Touristen und erwartungsvollen Chorsänger/-innen, zwischen Bratwurststand und VIP-Lounge, zwischen torkelndem Penner und erfüllter Bachfestbesucherin in der musikalischen Fassung eines der größten Komponisten – ursprünglich für den Kirchenraum vorgesehen – auf einer riesigen Bühne darstellen? Darf man Bach-Choräle von hunderten Menschen, auf dem Marktplatz sitzend, stehend, liegend, einfach so runtersingen oder summen lassen?

Ja, man darf – und vor allem: Man kann es! Der Sonntagabend hat es gezeigt. Sehr skeptisch, aber erwartungsvoll habe ich mich zum Marktplatz begeben – und war zunehmend gefesselt: von der Musik, die auch in ihrer Reduktion nichts von ihrer Dramatik, Eindringlichkeit, Größe verloren hat; von der sagenhaften Farbigkeit im Gesang des isländischen Tenors Benedikt Kristjánsson, von seiner Ruhe und Konzentration ausstrahlenden Stimme und Gestik, von der Musikalität der beiden Instrumentalisten (Elina Albach und Philipp Lamprecht), die ohne jede Theatralik keinen Moment Zweifel daran zuließen: hier wird Bach pur gespielt.

Die drei Musiker/-innen verbanden Innigkeit und Dramatik und konnten so die Menschen noch ganz anders in den Bann des Geschehens ziehen, als das in einer Kirche möglich ist. Denn das ursprüngliche Ereignis – das perfide Verfahren gegen Jesus, seine Verurteilung, seine Hinrichtung am Kreuz – geschah auch im öffentlichen Raum.

Jeder und jede, der und die wollte, konnte es sehen, miterleben, konnte sich abwenden, vorbeigehen oder einbeziehen lassen. Konnte sich wie Petrus aus der Verantwortung herauszuwinden versuchen „Ich bin‘s nicht“. Konnte sich fragen: Bin ich beteiligt, geht mich das was an, wenn die Katastrophe in die Normalität des Lebens einbricht?

Johann Sebastian Bach hat sich in seinen Passionen mit diesen Fragen in den Chorälen auseinandergesetzt. In diesen geht es nicht mehr um das vergangene, historische Ereignis vor 2000 Jahren, sondern um das Jetzt, das Heute: Was geht uns Menschen das Leiden und Sterben Jesu, was gehen uns Leiden, Gewalt, Unrecht an?

Spätestens in den Chorälen stoßen Katastrophe und Normalität zusammen. Spätestens da kann sich niemand dieser Spannung entziehen. Spätestens da kann sich die Spannung auflösen. Das konnte man spüren, wenn Kristjánsson die Choräle von der Bühne aus dirigierte und damit alle zu Beteiligten machte – aber nicht nur am heutigen Geschehen, sondern auch an der Hoffnungskraft des Glaubens: „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, / muss uns die Freiheit kommen“.

Nun wird der Bachschen Johannespassion immer wieder unterstellt, sie würde antisemitische Vorurteile fördern – insbesondere durch die dramatische Gestaltung der sog. Turbae, der Chöre, in denen der Volkszorn zum Ausbruch kommt, wenn Pilatus aufgefordert wird: „Kreuzige ihn“. Ich selbst halte diese Kritik deswegen für unberechtigt, weil Bach seine Passionen von Anfang an als gegenwärtiges Geschehen konzipiert hat.

Es geht nicht darum, wozu sich „die Juden“ vor 2000 Jahren haben hinreißen lassen, sondern wozu wir Menschen heute fähig und in der Lage sind, was wir an Leiden, Unrecht, Gewalt und Krieg zulassen – völlig unabhängig von unserer religiösen Ausrichtung. Benedikt Kristjánsson hat das aufgegriffen und das Problem dadurch gelöst, dass er diese Stellen gesprochen, skandiert hat, unterlegt mit der instrumentalen Begleitung der Bach’schen Komposition. Das hat eine ungeheure Wirkung – verstärkt durch eine zurückhaltende, aber umso eindringlichere Gestik. Da war jeder einzelne in seiner Verantwortung angesprochen.

Besonders berührend war die Gestaltung des Schlusschors „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ und Schlusschorals „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“. Da vereinten sich die drei Musiker/-innen in dem erlösenden Gesang und zeigten auf: Es gibt einen Weg, mit dem Widerspruch von Katastrophe und Normalität umzugehen. Dieser wird sichtbar, wenn der Himmel auf- und die Hölle zugeschlossen wird.

Genau das folgt der Niedertracht der Kreuzigung Jesu: die Aussicht auf ein Leben, in dem nicht mehr die Todesmächte das letzte Wort haben. Diese Botschaft passt auf jeden Marktplatz und sollte nicht verstummen: Niemand muss Gewalt und Krieg als unvermeidlich hinnehmen. Niemand sollte die Katastrophe menschlicher Niedertracht zur Normalität erklären und sich damit abfinden.

Es bleibt die Aufgabe der Passion Jesu: „O Mensch, mache Richtigkeit, / Gott und Menschen liebe“. Ein großer Dank an das Bachfest Leipzig, dass diese Botschaft in so hervorragender Weise auf die Straßen und Plätze getragen wurde – in einer Zeit, in der wir zwischen Normalität und der Katastrophe des Krieges wanken.

Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de

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