Totgeglaubte leben bekanntlich länger: Mehrere Aktivistinnen und Aktivisten besetzten am Freitag Abend das sogenannte „Schiefe Haus“ in der halleschen Innenstadt. Das Gebäude war viele Jahre von einer Projekt-WG bewohnt worden, bevor es vergangene Woche nach mehrjährigem Rechtsstreit verlassen werden musste. Ein Fall, der die steigenden Gentrifizierungsprobleme und bekannte Entmietungspraktiken in Leipzigs Nachbarstadt illustriert.
Auch über den Kreis seiner Bewohner hinweg war das Haus in der Breiten Straße wohlbekannt, wurden doch im ehemaligen Ladengeschäft im Erdgeschoss über die Jahre eine Vielzahl verschiedenster Veranstaltungen wie Lesungen, Konzerte und Ausstellungen organisiert. Die Besetzung Ende dieser Woche war jedoch nur von kurzer Dauer: Als die Polizei das Gebäude betrat, war bereits niemand mehr im Haus.
Gegen 22:30 Uhr waren zuvor am derzeit leerstehenden Gebäude mehrere Banner aufgetaucht, zusätzlich wurde Pyrotechnik gezündet. Zeitgleich wurde eine Pressemitteilung zum Geschehen veröffentlicht: Das Gebäude sei nun besetzt, man solidarisiere sich mit allen von Entmietung betroffenen und wolle im Erdgeschoss eine unabhängige Mieter- und Mieterinnenberatung etablieren. Kurz darauf tauchten etwa 50 Unterstützer auf, um vor dem Gebäude Stellung zu beziehen. Auch die Polizei ließ nicht lange auf sich warten, die Aktivisten konnten aber problemlos eine Kundgebung anmelden.
Auf der Versammlung herrschte recht ausgelassene Stimmung, spontan wurden unter Anderem Reden von Mieterinnen der Großen Steinstraße 34 gehalten, welche sich ebenfalls im Konflikt mit dem Gebäudeeigentümer ihres Zuhauses befinden. Auch ehemalige Bewohner des „Schiefen Hauses“ fanden sich ein.
„Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, dass doch einige Leute hier sind und dass das Thema noch immer interessiert“, erzählte Jonathan B. (Name geändert, Anm. d. A.), einer von ihnen, freudestrahlend. Auch die Idee einer unabhängigen Unterstützungsstruktur für von Entmietung Betroffene begrüßte er: „Mit vielen Auseinandersetzungen – den Gerichtsprozessen, den Konflikten mit dem Vermieter, der einen immer wieder vor vollendete Tatsachen stellen kann – ist man im Alltag alleine.“
Daher sei der Aufbau einer von den Einzelfällen unabhängigen Struktur für Halle wichtig, so B. Weiter freute er sich, dass mit solchen Besetzungsaktionen der Spieß umgedreht werde und auch die Vermieterseite sich einmal mit geschaffenen Tatsachen konfrontiert sehe.
Darum, dass die Aktion so kurz nach Schlüsselübergabe sich nochmals negativ auf die Ex-Hausbewohner auswirken könnte, machte sich B. keine Gedanken – man hätte mit der Besetzung nichts zu tun und sei selbst, wenn auch freudig, überrascht gewesen. Eine vertrauenswürdige Quelle aus Organisatorenkreisen verneinte ebenfalls jedwede Involvierung der ehemaligen Mieter in die Besetzung. Das Objekt in der Breiten Straße sei schlicht aufgrund seiner öffentlich bekannten Vorgeschichte ausgewählt worden, um ein Zeichen gegen Entmietung und Gentrifizierung zu setzen.
Dem Auszug der Mieter und Mieterinnen aus dem „Schiefen Haus“ Anfang des Monats waren jahrelange Rechtsstreitigkeiten vorausgegangen. Nachdem der aktuelle Eigentümer Dirk Herold, zu dessen Immobilienfirma ca. 10 weitere Gebäude in Halle gehören, das Haus Ende 2018 erwarb, wurde es für die Bewohner und Bewohnerinnen bald ungemütlich. Schnell sei es darum gegangen, wie sich die nicht unerheblichen Investitionskosten auf die bisher niedrige Miete umlegen ließen, berichteten sie damals.
Das Mehrfache ihrer bisherigen Miete für das nach wie vor marode Gebäude zu bezahlen, waren sie damals nicht bereit.
Tatsächlich führte der Zustand des Gebäudes mehrmals zu massiven Konflikten; so mussten allein 2019 die Reparaturen der Heizung in den Frühjahrsmonaten und bald darauf eines defekten Abflussrohres, durch das Fäkalien in den Innenhof gespült wurden, vor Gericht erstritten werden. Ein ehemalige Mitarbeiter des Eigentümers führte sein Verhalten auf eine Fehlkalkulation bzgl. den Kosten für Instandsetzung und die mit dem Hauskauf verbundenen Eigentümerpflichten zurück.
In der Stadtgesellschaft spielt Dirk Herold zu diesem Zeitpunkt ohnehin eine kritisierte Rolle: Er fungierte als Sprecher der „Anwohnerinitiative am August-Bebel-Platz“, die sich gegen die Nutzung des Ortes durch Jugendliche in den Abendstunden engagierten. Dies geschah in der Folge einer regelrechten Repressionswelle gegen „cornernde“ Jugendliche in den Jahren 2018/19, bei der Polizei und Ordnungsamt durch stetige Kontrollen, teils mit Hundestaffeln, junge Menschen von beliebten Treffpunkten im öffentlichen Raum verscheuchten.
Im Fall des „Schiefen Hauses“ reichte Herold schließlich eine Kündigung ein, Begründung: Eigenbedarf. Dies erschien bereits damals fragwürdig: Begünstigte sollten die Kinder sein, eines war zum Zeitpunkt der Kündigung allerdings noch minderjährig. Ganz davon abgesehen, dass zur Immobilienfirma gleich mehrere Mehrfamilienhäuser gehören, weswegen es unsinnig erschien, ein bewohntes Haus freiräumen zu lassen.
Mit dieser Begründung konnten die Mieter und Mieterinnen den Prozess erstinstanzlich auch tatsächlich für sich entscheiden. Vor einem halben Jahr kam es dann aber zum Berufungsverfahren – auf Mieterseite war die Kraft am Ende, man ließ sich auf einen Vergleich ein und beräumte das Gebäude schließlich Anfang Mai dieses Jahres.
Die Versammlung vor dem Gebäude verlief die längste Zeit ruhig. Es kam jedoch zu Rangeleien, als die Polizei begann, den Bereich vor der Eingangstür freizumachen. Dabei schubsten Polizeikräfte, scheinbar ohne Vorwarnung, Demonstrierende zur Seite, was in einem kleinen Handgemenge endete. Dabei wurden Menschen auf vor dem Gebäude liegende Glasscherben gestoßen, verletzt wurde jedoch niemand.
Daraufhin wurde die Kundgebung beendet, es folgte eine Begehung des Hauses durch die Kriminalpolizei. Laut Polizeipressestelle wurden mehrere Fenster beschädigt. Die verwendeten Transparente seien sichergestellt und Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, Festnahmen habe es aber keine gegeben.
Der Eigentümer selbst lehnte es ab, sich zum Geschehenen zu äußern.
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