Prominente deutsche Künstler, darunter Alice Schwarzer, Martin Walser und Julie Zeh, fordern in einem Offenen Brief, dass Deutschland keine schweren Waffen an die Ukraine liefert. Sie fürchten, dass dies zu einer Eskalation des Krieges führen könnte, bei der eher früher als später Deutschland direkte Kriegspartei werden könnte.
Man kann diesen Text als Beitrag zur demokratischen Debattenkultur durch einige von Deutschlands bekanntesten Intellektuellen feiern.
Es liegt allerdings auch eine gewisse Ironie darin. Solche in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlichen Meinungsäußerungen wären in der Ukraine spätestens nach Putins Sieg nicht mehr möglich. Und gewissermaßen spielt jener Offene Brief durchaus Putin in die Hände. Zumindest indirekt.
Eines seiner erklärten Kriegsziele besteht schließlich darin, solche grundlegenden demokratischen Akte innerhalb seines Herrschaftsbereichs unmöglich zu machen.
Natürlich war in der Ukraine vor Kriegsbeginn längst nicht alles demokratisches Gold. Und seit Kriegsbeginn führen auch die Ukrainer einen Propagandakrieg mit Hilfe von Übertreibungen, Beschönigungen und zumindest Halbwahrheiten. Für Heilige ist in Kriegen nur auf Friedhöfen und in Kirchen Platz.
Doch die Beweise für die Massaker der russischen Truppen in den besetzten ukrainischen Gebieten sind solide. Sie weisen ganz klar darauf hin, dass Morde und Vergewaltigungen dazu dienen sollen, die Vertreter einer offenen Gesellschaft zu vernichten und damit Angst und Schrecken unter der ukrainischen Demnächst-Kolonialbevölkerung zu säen.
Krieg und bewaffneter Konflikt sind unfassbar beängstigende Vorgänge
Die Angst, dass der Krieg bis hierher nach Deutschland eskalieren könnte, die eines der Motive für die Veröffentlichung des Offenen Briefs darstellte, wegdiskutieren zu wollen, wäre ausgesprochen empathielos.
Sich von der Furcht um die eigene Sicherheit und die seiner Familie und Freunde leiten zu lassen, ist absolut legitim und zutiefst nachvollziehbar. Wer da jetzt vom hohen Ross herunter verbal auf Menschen eindrischt, die sich in diesem Sinne äußern und engagieren, begeht einen Fehler.
Trotzdem gibt es gute Gründe, diesen Brief nicht zu unterzeichnen.
Von Nigel Farage in UK über Viktor Urban in Ungarn und diverse korrupte serbische Politiker bis hin zu italienischen, französischen, spanischen und deutschen einschlägigen Politfiguren hat Putin seit Jahrzehnten jegliche Anti-EU Bewegung und jeden Samthandschuhfaschisten in Europa unterstützt, solange die mit dem kleinen Finger Richtung Moskau gewackelt haben.
Es ist unwahrscheinlich, dass Tokayer trinken mit Viktor oder eine Pub-Tour mit Nigel Teil von Putins Bucket List dargestellt hätten. Er unterstützte Neofaschisten und Nazis in Europa, weil er die EU als direkte Bedrohung für sein imperialistisches Herrschaftssystem begreift. Sehr zu Recht übrigens.
Denn bei allen (nicht nur, aber auch neoliberalen) Unzulänglichkeiten, die im Projekt EU verbaut sind, bildet sie das erfolgreichste demokratisch liberale Friedensprojekt aller Zeiten. Und stellt damit eine Alternative für Putins Oligarchengangstersystem dar, die selbst mit Hilfe der perfidesten Staatspropaganda nicht wegzudiskutieren ist.
Es wäre unredlich, den Unterzeichnern des Briefes vorzuhalten, dass sie sich durch ihre Unterschrift bewusst mit Unterstützern von Faschisten und Neonazis gemein gemacht hätten. Dennoch spielen solche öffentlichen Forderungen Putins Kriegs-Maschine in die blutigen Hände.
Denn die Forderungen in dem Brief deuten auf einen Riss in der deutschen Bevölkerung hin. Einen Riss, den wir hier in der Berliner Republik als legitime Meinungsäußerung betrachten mögen. Aber den Putins Propagandakrieger bei ihren Manipulationsversuchen weidlich ausschlachten.
Der verschwommene Kompromiss-Frieden
In dem Text des Offenen Briefes wird explizit darauf hingewiesen, dass ein baldiges Ende des Krieges auch im Sinne der ukrainischen Bevölkerung sein müsse. Wer will dem widersprechen? Nur darüber, zu welchen Bedingungen würde dieser Frieden mit dem Aggressor verhandelt und wie später auch durchgesetzt werden, findet sich kein konkretes Wort.
Da wird nur vage von einem für beide Seiten erträglichem „Kompromiss“, den es auszuhandeln gelte, gesprochen. Aber wie sähe das Leben der Ukrainer in diesem Kompromissfrieden aus?
Eines von Putins erklärten Kriegszielen ist „Regimechange“ in Kiew von einer demokratisch gewählten Administration hin zu einer Moskau ergebenen Übergangsregierung. Konkret bedeutet dies, dass man im Kreml davon träumt, die Ukraine zu einer Kolonie abzustufen, deren Bewohner man dementsprechend behandelt würde.
Die ukrainische Bevölkerung hat sich spätestens seit 2014 mehrheitlich in Wahlen, Aufständen und zuletzt einem jahrelangen Bürgerkrieg gegen eine Existenz als Russlands Satellitenstaat gewandt und dafür furchtbare Opfer gebracht. Diese Opfer zählen den Unterzeichnern des Briefes offenbar nicht so viel wie ihre persönliche Furcht vor einer Eskalation des Konflikts. Was auf der rein menschlichen Ebene durchaus verständlich ist.
Dennoch zeugt diese Haltung auch von einer unerträglichen westeuropäischen Überheblichkeit gegenüber einer Nation, zu der man in (west)bundesdeutschen Großbürger- und Gelehrtenstuben bislang kaum Verbindungen hatte.
Die osteuropäischen – und ukrainischen – Saisonarbeiter, die in den letzten Jahrzehnten Deutschlands Wohlstand auch ermöglicht haben, gehen nun mal nicht in der Redaktion der EMMA oder Martin Walsers Salon ein und aus. Hier ist man London, Paris oder New York näher verbunden als Warschau, Kiew und Minsk.
In den Leitmedien der Berliner Republik spielt Osteuropa außerhalb von Extremsituationen wie Volksaufständen, Krieg oder Wahlen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Während man dort viertelironisch jeden zweiten von Boris Johnsons Sinnfürzen durchs mediale Dorf treibt und Kamala Harris Frisur feiert, ist hinter Warschau schnell Ende mit der Berichterstattung.
Jenes Ende erfährt zwar eine kurze Arbeitsunterbrechung um Petersburg und Moskau herum, aber danach fällt die Nachrichtenleere, was Bulgarien, Rumänien, Serbien, Bosnien, Albanien oder Moldawien betrifft, umso endgültiger aus.
Dabei sind diese Nationen unsere Nachbarn, deren Wohl und Wehe unsere politische Zukunft direkt mitbestimmt.
In dieser Distanz, scheint mir, begründet sich ein Teil der Selbstverständlichkeit, mit der man in dem Offenen Brief eine nahezu quasi Neutralität Deutschlands im Ukrainekrieg einfordert. Die, nebenbei bemerkt, Europas Sicherheitskonzept und Westbindung samt zu diesem Behufe getroffener internationaler Vertragswerke völlig zuwiderliefe.
Pazifismus hat seine Berechtigung als eine Haltung in einer beeindruckend beängstigend instabilen Welt. Pazifismus ist auch keine persönliche Feigheit. Wovon all die im Laufe der Geschichte ihrer pazifistischen Haltung zum Opfer gefallenen Menschen zeugen. Pazifismus eignet sich allerdings nicht zur Staatsdoktrin in einer von den Geistern des frühen 19. Jahrhunderts heimgesuchten Welt.
Wenn aus dem Aggressor eine „Kriegspartei“ wird
Der in dem Offenen Brief wahrscheinlich unsinnigste Satz kommt ausgerechnet als Warnung einher. Dort wird nämlich behauptet, dass die Verantwortung dafür, dass der Konflikt nicht weiter eskaliere, nicht allein beim Aggressor liege, sondern auch bei denjenigen, die ihm einen Vorwand für jene Eskalation liefern.
Auch hier wieder scheint man im ersten Moment versucht, den Verfassern zumindest teilweise zustimmen zu wollen. Selbstverständlich tragen alle Kriegsparteien Verantwortung für die Eskalationsstufen eines Krieges und müssen sich die Unterstützer von Kriegsparteien fragen lassen, wie weit sie mit ihrer Unterstützung zu gehen bereit sind, sowohl mit Rücksicht auf ihre eigene Bevölkerung wie diejenigen der kriegführenden Staaten.
Wer hocheffiziente Vernichtungsmaschinen wie Panzer liefert, weiß, dass daraus keine Kamellen verschossen werden.
Doch der Krieg, um den es hier geht, ist ein Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen, gegen ein Europa, welches auch in Prag, Budapest, Warschau, Vilnius und ja, auch Kiew seine liberalen Werte vertritt. Daraus hat man in der russischen Militärführung von Anfang an keinen Hehl gemacht. Deutschland, die Nato und die EU sind durch Putin als indirekte Gegner im Ukrainekrieg von Beginn an eingepreist gewesen.
Es wäre schließlich nicht zum Krieg gekommen, hätten die Ukrainer sich mit dem Status eines von Russland gesteuerten Satellitenstaates abgefunden. Die Alternative dazu, die die Ukrainer im Westen sahen, hat jene Unterwerfung allerdings verhindert und nach Staatsstreich und Propagandakrieg sah man im Kreml offensichtlich nur noch die Aggression, um die Existenz eines mindestens potenziell erfolgreichen, westlich orientierten Nachbarstaates zu beenden.
Es ist vielleicht zynisch, aber realpolitisch deswegen nicht falsch, in der Orientierung der Ukraine nach Westen einen Erfolg des Projektes EU zu sehen. Schon in diesem Sinne sind wir auch moralisch Partei in diesem Konflikt.
Immer wieder wird im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg sogar von klugen Menschen behauptet, dass man Russland nach dem Mauerfall gewisse Zugeständnisse seiner territorialen Sicherheit gemacht hätte und diese spätestens mit der Unterstützung der ukrainischen Seite im Krieg missachte.
Dem kann man aktuell ganz sicher entgegenhalten: Wenn dein Nachbar deine Haustür aufbricht und auf dein Klo geht um anschließend zu behaupten, dass seine Väter das auch so gehandhabt hätten und dieses vermeintliche Recht jetzt plötzlich auch für sich einfordert, ohne darüber deine Meinung auch nur anzuhören, geschweige denn als legitim anzuerkennen, dann sehe ich nicht viele Leute, die dem unwidersprochen zuschauen würden.
Die Ukrainer tun es jedenfalls nicht.
Wer gibt uns im Westen also das Recht, per Federhalterstrich über die Köpfe der Bevölkerungen ehemaliger Sowjetstaaten hinweg zu entscheiden, dass sie ohne jede Aussicht auf Eigenbestimmung ewig unter einem diktatorischen Gangstersystem zu existieren hätten? Das ist doch eine völlig absurde Auffassung. Die zudem auch sämtlichen demokratisch westlichen Werten widerspricht.
Ebenso absurd wäre es im umgekehrten Fall den in Russland lebenden Jakuten oder Kumyken vorzuschreiben, dass sie sich gefälligst ab nächste Woche Dienstag 19 Uhr 33 als Belgier oder Slowaken zu betrachten hätten. Nach Putins Blut- und Boden-Logik genügt dafür der Nachweis eines vor 300 Jahren eingewanderten Menschen aus der heutigen Slowakei.
Kann Putin deutsche Waffenlieferung zum Anlass einer atomaren Eskalation nehmen?
Ganz klar, könnte er das. Kein Mensch kann wirklich sagen, was im Kopf des Mannes aktuell vorgeht und wie weit er in dieser Entscheidung bereits vorangeschritten ist oder nicht.
Aber die beunruhigende Realität ist auch, dass in einem Krieg, dessen erklärtes Ziel die Absetzung einer demokratisch gewählten Regierung besteht, die in der russischen Kriegspropaganda als ebenso von (vermeintlichen) Völkermördern durchseucht dargestellt wird wie die EU, Deutschland als EU-Mitglied durch Russland von Anfang an als Gegner ausgemacht gewesen ist.
Die schlechte (wenn auch ganz und gar nicht neue) Nachricht für uns ist: Die Bombe kann jederzeit fallen.
Die halbwegs gute (wenn auch ebenfalls nicht ganz und gar überraschende) Nachricht lautet: Dass man im Kreml ganz genau weiß, dass sich Berlin, Paris, London und Washington eben nur unter ungleich größeren Konsequenzen in Schutt und Asche bomben lassen wie Kiew oder Mariupol.
In diesem Sinne kann man den Unterzeichnern und Initiatoren jenes Offenen Briefes in der EMMA neben realpolitischer Naivität auch eine gewisse Denkträgheit bescheinigen, falls sie hoffen, mit ihrer Forderung Erfolg zu haben.
Das Einzige, was Putin vielleicht noch davon abhalten kann, das furchtbarste Kriegsbesteck zu ziehen, ist gerade eine Verlustrechnung seiner globalen imperialistischen Ambitionen, die selbst für ihn und sein Umfeld zu hoch ausfällt, um sie (er)tragen zu wollen.
Dafür, dass diese potenzielle Verlustrechnung weiter zu hoch ausfällt, sorgen eben unter anderem auch deutsche Panzer. So furchtbar sich das gerade für einen Deutschen schreiben zu müssen auch anfühlen mag.
Trost im Angesicht der Ungeheuerlichkeiten, die keine drei Flugstunden östlich von Berlin stattfinden, vermitteln solche Gedanken kaum.
Putin lacht
Was gewöhnlich für Religionen gilt, gilt in diesem Fall auch für die Macht der Demokratie und die der westlichen Werte von Freiheit und Menschenrechten. Sobald ihre Altäre verlassen scheinen und ihre Tempel allzu offensichtlich zu bröckeln beginnen, werden sie von Dämonen besetzt, die längst in den Schatten zwischen den Ruinen auf ihre Chance gelauert haben.
Im Fall der Ukraine hat Putin sich, was die Standfestigkeit jener Tempel betraf, bislang zum Glück deutlich verkalkuliert.
Nicht gar so deutlich geirrt hat er sich augenscheinlich in der Bereitschaft bundesdeutscher Eliten (und tausender ganz gewöhnlicher Mittelklassebürger, die den Offenen Brief der EMMA inzwischen unterzeichnet haben), ihrer Angst Vorrang vor ihrem Sinn für Freiheit zu geben.
Vom 3. bis 10. Mai 2022 findet die „Woche der Meinungsfreiheit“ zum zweiten Mal überhaupt statt. In verschiedenen Artikeln und Beiträgen wird sich die Leipziger Zeitung mit den verschiedenen Aspekten von „Meinung und Freiheit“, persönlichen Sichtweisen unserer Journalistinnen und Einblicken in die eigene Arbeit befassen.
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