Überall Menschen; auf dem Freisitz hinterm Haus, in den ersten Etagen, im Keller und auf der Straße vor dem Gebäude. Und überall kyrillische Buchstaben, englische Wortfetzen, Tellergeklapper und das Geräusch einer Kaffeemaschine irgendwo aus der Tiefe des langgetreckten Ganges zum Mittagsbuffet. Im Innenhof klackert ein Tischtennisball über die Platte, Kinderlachen ab und zu. Es ist wieder Leben in „Die Villa“ eingekehrt, die Pandemie scheint vorbei und vergessen.
Der Anlass allein ist kein guter, weshalb das Haus an der Lessingstraße mittlerweile täglich aus allen Nähten platzt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine nimmt kein Ende, mit jedem Angriff auf neue Regionen und Städte des europäischen Landes werden es mehr Menschen, die ihre Heimat verlassen. Ihr Weg führt sie dabei meist in die einzige Richtung, die ihnen bleibt – gen Westen, nach Polen, ins Baltikum und immer mehr auch in die deutschen Großstädte.
Unter ihnen viele Frauen und Kinder, die Männer haben mehrheitlich zur Waffe gegriffen und kämpfen rings um Kiew, Mariupol, Dnipro – gerade hat der Ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nur das Kriegsrecht um weitere 90 Tage verlängert, stets bittet er auch um mehr schwere Waffen, während Russland zunehmend vor seinem „Verdun-Moment“ in einem nun bereits monatelangen Abnutzungsgefecht statt eines schnellen Sieges steht.
Und mit jedem Tag verlieren auch mehr Menschen den Willen zu bleiben, lassen zerstörte Straßen und Häuser hinter sich und fliehen.
Ein Hotspot der Fluchtbewegungen ist mittlerweile auch Leipzig geworden, 8.742 registrierte ukrainische Geflüchtete sind es laut Stadt Leipzig (Stand 24. Mai), darunter rund 75 Prozent Frauen, 34 Prozent Minderjährige, die in der Stadt angekommen sind.
Die meisten von ihnen landen in den großen anonymen Sammellagern, meist am Rande der Stadt angesiedelt, manche kommen privat unter, erleben Hilfe aus der Zivilgesellschaft wie von staatlicher Seite. Längst ist eine Debatte entbrannt, dass die Ukrainer/-innen besser behandelt würden als andere Zufluchtsuchende, sie erhalten Zugang zu Sozialleistungen, kommen leichter in den Genuss, arbeiten zu können. Und auch dank der besser ausgebauten Kita- und Schul-Strukturen ist der Zugang in die Betreuungseinrichtungen für die Jüngsten leichter als noch 2015 und 2016.
Mehr Probleme als erwartet im Safespace
Felix, Vollzeit im Beruf stehend und eine weitere ehrenamtlich arbeitende Studentin Hanna (Name geändert) sitzen über einem Kaffee auf dem zum Freisitz umgebauten Innenhof der Villa, blinzeln in die Sonne und sind durchaus froh über das erreichte. Über ihr bis zu 12 Frau und Mann starkes Orgateam und die Möglichkeit, in der Villa täglich mindestens 400 Menschen eine Mahlzeit, Zuwendung und Gespräche anbieten zu können.
Das Haus selbst ist ein Glücksfall für die Ehrenamtler/-innen: Alle Räume werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, auch alle anfallenden Nebenkosten. Der Betrieb des Soziokulturellen Zentrums selbst hat sich ebenfalls gewandelt, viele Angebote auf der Webseite werden nun mehrsprachig angeboten, Deutschkurse sind im Programm – die Villa hat auf die Ukraine-Krise reagiert wie kaum ein anderes Haus in Leipzig, packt mit an und unterstützt die „Safespace“-Macher/-innen wo es geht.
Vieles sei mittlerweile auch selbst organisiert, so zum Beispiel die Essensausgabe, bei welcher Ukrainerinnen helfen – rings um diese hat sich eine deutsch-ukrainische Community gebildet, die sich hier zu regelrechten Arbeitsschichten anmelden. „Auf diese Menschen sind wir massiv angewiesen“, berichtet Felix, ohne sie ginge das erstaunliche Versorgungsvolumen nicht. „Es gab hier auch schon ein Wochenende, da waren es 1.000 Menschen, die den Tag über zu uns kamen“.
Benötigt wird das Angebot vor allem deshalb, weil mehrere Umstände zum stetigen Zufluss an der Lessingstraße beitragen. Ukrainer/-innen, welche in privater Unterbringung oder mit einer eigenen Wohnung in Leipzig leben, sind mit Hartz IV gerade so auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter angelangt, viele haben keinen Zugang zu ukrainischen Konten mehr, mancher ist schlicht überfordert mit all dem, was in Leipzig neu und ungewohnt ist.
Mancher steht „auch plötzlich mit dem Auto vor der Tür“, die Adresse habe sich bis in die Ukraine herumgesprochen, so Felix, was den „Safespace“ auf einmal auch zur ersten Anlaufstelle, Orientierungs- und Startpunkt für den Aufenthalt in Leipzig macht. Ehrenamtlich, ohne Bezahlung betrieben und nur noch wenige Tage von der US-Amerikanischen NGO „Worlds Kitchen“ finanziell getragen.
„Wir gehen auf dem Zahnfleisch“
Zudem steigen die Lebensmittel- und Energiepreise seit Wochen spürbar – ein Umstand, der nicht grundlos am 18. Mai 2022 zu einem Stadtratsbeschluss führte, einen kommunalen Sonderfond gegen „Energiearmut“ für alle bedürftigen Leipzigerinnen einzurichten. Ganz gleich, woher die Menschen kommen oder hier schon lange leben: Die Inflation greift zuerst jene an, die finanziell am schwächsten sind.
Und was Anfang März 2022 mit Kriegsausbruch klein in einem Hostel nahe des Leipziger Hauptbahnhofes und ein paar ersten Suppen begann, trägt ein Problem bereits von der Idee an in sich. Der Einkauf der Lebensmittel, die Zubereitung – alles kostet Geld, allein ein „Bäcker hier aus der Region hat uns mit Waren im Wert von 13.000 Euro unterstützt“, macht Felix die Dimensionen klar.
Man darf von sicher 50.000 Euro monatlich ausgehen, um den „sozialen Ort, wo man auch mal sein möchte, wo es Musikangebote gibt, Kinderschminken, Gespräche“ zu erhalten. Das Netzwerk ist zunehmend damit befasst, auch bei der Jobsuche zu helfen, denn „eigentlich jeder, der hierherkommt, will arbeiten“ und der Zustrom steigt, sagt Hanna.
Auf die Kooperation mit der Stadt angesprochen, möchte man eigentlich nichts Negatives sagen. Bekanntermaßen bemühen sich auch in den kommunalen Strukturen der Stadt viele um einen reibungslosen Ablauf beim Management der Ankommenden. Doch wenn es in die Verästelungen der Integration geht, sind zivilgesellschaftlich organisierte Menschen dann doch oft schneller, präziser und vor allem: Sie sind mehr, können auf Netzwerke zugreifen, praktikable, manchmal auch schlicht private Hilfe anbieten. Ohne Hürden, Anträge und lange Ämtergänge.
Demgegenüber stehen letztlich drei Mitarbeiterinnen im Rathaus, die die ganzen ehrenamtlichen Initiativen Leipzigs bündeln sollen und dabei über keinen wirklich eigenen Finanzetat verfügen. Eine schnell aufgebaute Struktur, die – so das Denken in vielen solcher Situationen – anschließend auch genauso schnell wieder abgebaut werden kann.
Ein Denken, welches die „Safespace“-Aktivist/-innen nicht teilen. Die Welt ist im Wandel, die Krisen und Wanderungen auf der Welt werden auch zukünftig eher mehr, nicht weniger. Es braucht also Strukturen, die sich konstant etablieren, flexibel auf Spitzen reagieren können und zur Not auch Integration dort leisten, wo die Menschen ankommen: an der Basis, in der Villa, mitten in der Stadt.
Die Vereinsgründung ist auch deshalb in Vorbereitung, doch die Zeit drängt. Der „Safespace“ braucht als eine der derzeit größten Auffanginitiativen der Stadt Geld statt warmer Worte.
Kontaktmöglichkeiten, um dem „Safespace“ Unterstützung und die eine oder andere Spende anzubieten:
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher