Es war eine Metapher im politischen Diskurs Ende der 80er Jahre: das gemeinsame Haus Europas. Michael Gorbatschow gebrauchte das Bild von verschiedenen Wohnungen unter einem Dach ebenso wie Willy Brandt oder Erhard Eppler: eine europรคische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Sie sollte eines verhindern: dass Interessensauseiandersetzungen mit Krieg โgelรถstโ werden.
Damit war die Vorstellung verbunden: Unter einem Dach kรถnnen Menschen und Nationen nur dann friedlich zusammenleben, wenn sie sich in ihrer Verschiedenheit und Vielfalt respektieren. Mit der Friedlichen Revolution 1989/90, der Deutschen Einheit 1990 und der Auflรถsung des Warschauer Paktes sahen viele Menschen in West- und Osteuropa ein gemeinsames, friedliches Zusammenleben als gesichert hat.
Allerdings hat man in den vergangenen drei Jahrzehnten eines vergessen: Das gemeinsame Haus Europa bedarf einer von allen akzeptierten Hausordnung. Dass diese nicht entwickelt wurde, rรคcht sich jetzt bitter. Spรคtestens seit 2014 ist vom gemeinsamen Haus Europas kaum mehr die Rede. Damit gerieten die europรคischen Staaten, die nicht zur EU und nicht zur NATO gehรถren, aus dem Blickfeld.
Das gilt fรผr die Ukraine, Belarus, Georgien wie fรผr Russland. Die ehemaligen Teilrepubliken der UDSSR streben nach Teilhabe an den Errungenschaften, die zur Idee des gemeinsamen Hauses Europa und zur รberwindung der Spaltung gefรผhrt haben: Achtung der Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Strukturen, vor allem aber die Integritรคt der โWohnbereicheโ.
Putin und seine Vasallen aber verfolgten ganz andere Ziele: Eine den Menschen von oben oktroyierte Hausordnung fรผr ein autokratisch, diktatorisch regiertes russisches Groรreich, das sich zusรคtzlichen โWohnraumโ mit Gewalt aneignen darf. Das alles konnte sich in den vergangenen 20 Jahren gegenlรคufig entwickeln, weil sich die europรคische Auรenpolitik nicht mehr von der Vision vom gemeinsamen Hauses Europa leiten lieร โ ein folgenschweres Versรคumnis, nicht nur fรผr die Ukraine, auch fรผr den Zusammenhalt innerhalb der EU.
Jetzt stehen wir in Europa ohne Haus-, ohne eine von allen akzeptierte Friedensordnung da. Jetzt sehen wir in diesem Haus eine Macht wรผten, die Eigentumsrechte nicht akzeptiert und sich mit Gewalt anderer Wohnungen bemรคchtigt. Jetzt diktiert nicht der Freiheitswillen der Menschen das Geschehen, sondern Machthunger und Skrupellosigkeit eines Diktators in Moskau. Jetzt ist das eingetreten, was unbedingt verhindert werden sollte: Krieg.
Wie aber soll ein Zusammenleben unter einem Dach mรถglich sein, wenn dies von einem Hausbewohner nicht nur verweigert wird, sondern dieser seine diktatorischen Vorstellungen mit Bomben-Gewalt durchsetzen will und diese in seiner Wohnung schon brachial durchgesetzt hat? An vier Einsichten kommen wir nicht vorbei:
1: Autokraten und Diktatoren kennen keine Macht- und Gewaltbegrenzung. Nach innen setzen sie Einfรถrmigkeit durch, nach auรen bestimmt Nationalismus, die Keimzelle fรผr Krieg, ihr Handeln. Aus freien Stรผcken werden sie von ihrer kriminellen Energie nicht ablassen. Verhandlungslรถsungen sind kaum mรถglich, solange sich nicht die Menschen von ihren Tyrannen befreien.
2.: Wir mรผssen Europa weiterdenken als die EU. Russland bleibt unabhรคngig vom Putin-Regime Teil des Kontinents und damit auch Teil des Hauses Europa.
3.: Die europรคische Staatengemeinschaft darf nicht zulassen, dass das Haus Europa, das mehr ist als die EU, durch Putins Krieg von innen zerstรถrt wird. Darum gilt dem ukrainischen Volk, aber auch den Menschen in Belarus, Georgien, Moldawien alle Unterstรผtzung.
4.: Der europรคische Widerstand gegen die in jeder Hinsicht maร- und gewissenlose Kriegsarroganz Putins darf das Ziel nicht aus den Augen verlieren: eine Friedensordnung fรผr das gemeinsame Haus Europa, die ein freiheitliches Leben der Menschen ermรถglicht und auf Gewaltlรถsungen verzichtet.
In der Vergangenheit wurde viel versรคumt. Es wurden Fehler gemacht: Putins brutaler Killerinstinkt gepaart mit groร-russischen Machtphantasien wurde unterschรคtzt, die Frieden stiftende Funktion von Wirtschaftsbeziehungen und von wissenschaftlichem wie kulturellem Austausch wurde einseitig รผberschรคtzt. Mir ist das auch so ergangen. Eine kritische Revision ist erforderlich. Der maรlose Machtanspruch Putins muss zurรผckgewiesen werden. Allerdings sollten wir uns hรผten, das Ziel vom gemeinsamen Haus Europa ad acta zu legen.
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