„Wie konnte sich Putin so verkalkulieren?“, fragte Sabine Fischer am Samstag, 5. März, auf ZEIT Online. Und man wundert sich. Obwohl man sich vielleicht nicht wundern sollte. Denn wer weiß schon, wie eine Autokratie funktioniert. Und wer hat in all den westlichen Lehrstühlen je den Begriff Silowiki ernst genommen. Dabei hat Wladimir Sorokin schon 2008 erklärt, wie Putin funktioniert.

Nachlesen kann man das auf Planet Interview. Kann man aber auch in seinem damals erschienen „Der Tag des Opritschniks“. Ein Bestseller. Eine Dystopie, über die der Verlag selbst schrieb: „Der Tag des Opritschniks ist eine schmerzhafte Satire, eine negative Utopie im Sinne von Huxley, Orwell und Burgess. Das Erschreckende daran ist, dass sie der russischen Gegenwart beunruhigend nahekommt.“

Das war 2008. Die Zeit, als Wladimir Putin gerade die Rochade machte vom Amt des Präsidenten in das des Premierministers. Eine Rochade, die nichts an seiner tatsächlichen Macht änderte. Und auch nichts an dem Beziehungsgeflecht, das ihn seit seinem Machtantritt trägt, der auf seine Weise ja schon skurril wirkte, als Boris Jelzin seinen Nachfolger präsentierte wie ein Wunderkind, einen echten Zarewitsch.

Nur dass es ein Zarewitsch aus dem Kosmos des russischen Geheimdienstes war. Der mit seinem Gang in die Politik nicht aufhörte, ein Mann des FSB zu sein. Unterstützt und abgeschirmt von den Silowiki.

Strategie: Machterhalt

„Hat Putin Ihrer Meinung nach eine Strategie?“, fragte Jakob Buhre 2008. Und Sorokin antwortete: „Ich denke, es gibt nur eine einzige Strategie: dass die eigene Clique – also vor allem seine Gefährten aus Leningrad – an der Macht bleibt. Es geht darum, dass das Land von den Silowiki regiert wird, das ist so eine alte KGB-Denkweise.

Bei uns ist der Machtapparat heute absolut undurchsichtig geworden, zynisch und unberechenbar, nichts wird erklärt. Die Regierung fällt einfach nur Entscheidungen, Punkt. Das Volk ist denen egal.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Silowiki „ist im russischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für Vertreter der Geheimdienste und des Militärs, die in den Regierungen von Boris Jelzin und Wladimir Putin zu bedeutenden politischen und wirtschaftlichen Positionen kamen“, beschreibt Wikipedia dieses ganz spezielle russische Phänomen.

Hinter dem auch das Denken einer alten Machtelite steckt, die – wie Putin ja kürzlich erst betonte – den Zerfall der Sowjetunion bis heute nicht verschmerzt hat und für einen fatalen Fehler hält.

Es ist das alte imperiale Weltbild, in dem diese Funktionäre aufgewachsen sind und das sie nie korrigiert haben. Und das versteht man etwas besser, wenn man – wie Sascha Lobo in seiner Analyse „Sage mir, was du zensierst, und ich sage dir, wer du bist“ zu begreifen versucht, wie die Propaganda eines Geheimdienstes wirkt, wenn die Propagandisten ihre Lügen selbst glauben. Oder Fakes. Oder Konstrukte. Das ist egal.

Wer 1989 auch nur ein bisschen aufgepasst hat, der hat gemerkt, warum in der gealterten DDR die Führungskräfte in SED, Stasi, Polizei und Armee nicht mehr fähig waren, die Vorgänge im Land zu verstehen.

Denn das ist nun einmal die Folge von Propaganda, die keinerlei Kritik und Korrektur zulässt und am Ende nur noch die „Glaubensfesten“ in den entscheidenden Ämtern übrig lässt: Sie sehen die Welt nur noch durch ihre Propagandabrille und ignorieren alles, was da nicht hineinpasst. Oder versuchen es zu vernichten, zu zersetzen und auszumerzen.

Wenn Invasion nicht Invasion heißen darf

Denn in den Augen dieser Apparatschiks ist alles, was ihre Weltsicht auch nur vorsichtig infrage stellt, Diversantentum, Agententum und Terrorismus. Im Putin-Sprech auch gleich mal Neonazismus. Von Demokratie und Menschenrechten halten diese Leute sowieso nichts.

Auch wenn sie so eine Ahnung haben, dass sie das entmündigte Volk nicht ganz in der Hand haben, wenn sie ihm nicht auch noch Augen und Ohren verschließen – also die Möglichkeit nehmen, sich außerhalb der staatlich zensierten Quellen zu informieren.

Pressefreiheit ist nicht deshalb wertvoll, weil jeder seine Meinung herausposaunen darf und sonst keiner. Pressefreiheit bedeutet auch die Gewissheit, dass die Dinge immer hinterfragbar sind, Macht niemals absolut sein darf und auch der Staat nicht einfach recht hat, weil er der Staat ist.

Weshalb Putins Regierung seit Jahren alles dafür tut, jede unabhängige Berichterstattung in Russland zu unterbinden. Der Höhepunkt war ja vorgestern die Entscheidung der Duma, dass „Fake News“ über die Russische Armee mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können.

Mit dem Ergebnis, dass auch große internationale Nachrichtenagenturen ihre Berichterstattung aus Russland eingestellt haben. Denn unter dieses neue Gesetz fallen dann auch alle, die wahrheitsgetreu von der Invasion der Russischen Armee in der Ukraine schreiben.

Und natürlich fühlt sich jeder Leser zu Recht an Orwells „1984“ erinnert, das hier wie eine Blaupause wirkt samt Eliminierung von Worten, völliger Verkehrung von Wortbedeutungen oder den Euphemismen, die tatsächliche Verbrechen beschönigen. Aber dazu braucht ein Putin nicht extra Orwell zu lesen. Denn das alles sind traditionelle Bestandteile von Armeepropaganda und Geheimdienstarbeit.

Totalitarismus braucht keine Farbe

Alles schon unter Stalin erprobte Praxis, die George Orwell auch selbst aus eigenem Erleben im Spanischen Bürgerkrieg kennenlernte, als die Internationalen Brigaden aufopferungsvoll gegen die Falangisten kämpften, hinter den Linien aber der sowjetische Geheimdienst aktiv war und seine eigenen Tribunale veranstaltete unter Spanienkämpfern, die dem Roten Zaren nicht passten. Für Orwell war es der Beginn einer in immer neuen Büchern durchgespielten Warnung vor dem Totalitarismus.

Ein Totalitarismus, der nicht mal eine politische Farbe braucht. Er definiert sich aus sich selbst und seinem „stählernen“ Willen zum Machterhalt. Was ziemlich gut erklärt, warum ein Putin niemals fröhlich ist, wie es selbst Jelzin noch war.

„Putin sieht jedenfalls nicht gerade glücklich aus. Wenn man ihn zum Beispiel mit Jelzin vergleicht, der sah in jeder beliebigen Situation glücklich aus, obwohl er viele schwierigere Situationen erlebte, in denen er die Macht zu verlieren drohte“, sagte Sorokin in seinem Interview 2008.

„Doch wenn man sich Putin und Medwedew anschaut, ihr Gesichtsausdruck ist ein unruhiger, sie lächeln sehr selten. Putin nimmt die Regierungsarbeit nicht mit Euphorie wahr, sondern für ihn ist das eher eine unangenehme Aufgabe. Und wahrscheinlich weiß er, dass seine Politik tiefgründig falsch ist.“

Nur: Da kommt er nicht mehr heraus. Das ist das Problem von Autokraten: Sie haben keine friedliche Ausstiegsoption, denn nicht nur sie denken Macht immer absolut und unteilbar. So denken auch ihre Kumpel, die Silowiki, mit denen sich Putin umgeben hat und mit denen er sich bestenfalls auch berät.

Was eben auch bedeutet, dass auch der mächtige Mann in der Mitte gefangen ist in seiner Macht und deren Eskalationsspiralen. Was ja Sorokin dann in das Bild eines Mauerbaus und eines völlig abgeschotteten Landes projiziert hat. Denn „Stärke“ wird in so einem Land zum Kult. Und Brutalität zur einzigen Reaktionsform eines Apparates, an dessen Spitze Leute sitzen, die ihre Rolle des harten Schlagedreins nicht verlassen können.

Wenn Geheimdienste außer Kontrolle sind

Und die natürlich jede Kritik und jeden Widerstand als Infragestellung ihres Glaubens betrachten, ihrer ganzen so martialisch aufgebauten Fassade. Ihre Abschottung ist auch ihre Schwäche. Denn – wie Sorokin feststellt – sie erklären nichts. Denn es gibt nichts zu erklären. Ihre Politik ist völlig selbstbezogen und bezieht sich ganz und gar auf ihren Machterhalt und ihre Vorstellung von Macht über andere.

Wozu auch die vielen Nachbarstaaten gehören, die in der Vorstellung dieser Leute nicht nur „Einflussspähre“ sind, sondern „Machtsphäre“. Es ist ein uraltes Denken, das die Wikipedia-Autoren sogar bis zu Zar Alexander III. zurückführen.

Und das unter Stalin wieder zum Grundbestand dessen wurde, was das Denken der Geheimdienstoffiziere prägte. Nicht nur in der Sowjetunion. Ein Problem, das ja auch in Deutschland diskutiert wird: Wohin driften Geheimdienste, die kein demokratisches Gremium mehr kontrolliert?

Natürlich verselbständigen sie sich und verschließen sich irgendwann völlig in ihren eigenen Vorstellungen von der Welt da draußen. Und wenn sich die Welt da draußen verändert, stehen sie da wie nasse Hunde: Damit haben sie dann nicht gerechnet.

Denn natürlich kommt der lebendige, freiheitsliebende Mensch in ihren Dienstvorschriften nur als eines vor: als zu zerstörendes feindliches Element.

In der eigenen Propaganda gefangen

Aber das hat Folgen, wie Sascha Lobo mit Berufung auf Ivan Krastev feststellt:

„Der bulgarische Politologe Ivan Krastev, intimer Kenner und brillanter Analyst des postsowjetischen Osteuropa, ist davon überzeugt, dass der Kreml ‚Opfer seiner eigenen Propaganda‘ ist. Er bezeichnet es als einen der größten Fehler der manipulativen Politik, wenn sie beginnt, ihre eigenen Lügen zu glauben. Das ist die große Gefahr der Propaganda von autoritären Regimes: Sie funktioniert besser, wenn man selbst davon überzeugt scheint, aber dann löst man sich von der Realität ab und trifft folgenreiche Fehlentscheidungen.“

So wie der Überfall auf die Ukraine eine Fehlentscheidung war, deren Folgen der Kreml wahrscheinlich noch immer nicht begriffen hat. Genauso wenig, warum die russischen Soldaten nicht mit Blumen begrüßt wurden, sondern mit einem verbitterten Abwehrkampf der ukrainischen Armee.

Und da steckt dann Putin auf einmal in einem unlösbaren Problem. Denn ohne Gesichtsverlust kommt er da nicht mehr raus. Ohne gewaltigen Schaden für Russland sowieso nicht. Aber einen Gesichtsverlust kann sich der alte KGB-Mann auch nicht leisten, denn das ist das Schlimmste, was einem „starken“ Mann passieren kann. Autokraten haben keine Exit-Strategie, weil das schlicht nicht in ihr Weltbild passt.

Was natürlich das ganze Dilemma beschreibt: Wie kommt der Mann da wieder raus?

„Ein Regime wie das Putinsche lässt sich nur mit harter, autoritärer Hierarchie errichten, in der Loyalität das höchste Gut ist, Erfolg als selbstverständlich vorausgesetzt und mit Verbleib im System belohnt wird, während Misserfolg hart bestraft wird“, schreibt Lobo.

Putin ist der Gefangene seines eigenen Systems.

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