So beginnt das berühmte Gedicht von Matthias Claudius aus dem Jahr 1778: ’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, / Und rede Du darein! / ’s ist leider Krieg – und ich begehre, / Nicht schuld daran zu sein!
Wer wünschte sich das jetzt nicht: Gottes Engel möge dem Kriegstreiben in der Ukraine ein schnelles Ende bereiten – und ich selbst möchte an dem grausamen Geschehen keinen Anteil haben. Doch weder wird Gott das bereinigen, was Menschen angerichtet haben, noch werden wir von Versagen und Versäumnissen freigesprochen. Wie ein Krieg nur Verlierer hervorbringt, kennt er nur schuldhaft Beteiligte.
Schließlich entspringt jeder Krieg der menschlichen Hybris und Anmaßung, darüber entscheiden zu wollen, wer ein Lebensrecht hat und wer nicht; und jede/r Bürger/-in trägt Verantwortung für das, was auf dem Erdball geschieht. Darum gehen in diesen Tagen viele Menschen auf die Straße, um das Ende des Krieges in der Ukraine einzuklagen. Darum ist es wichtig, dass wir uns trotz aller Ratlosigkeit, Wut, Enttäuschung dem Geschehen stellen und versuchen zu klären, worauf es jetzt ankommt.
Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr (Gustav Heinemann in seiner Antrittsrede als Bundespräsident am 1. Juli 1969). Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen (Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969).
Diese beiden programmatischen Sätze prägen seit über fünf Jahrzehnten das gesellschaftspolitische Denken und Handeln vieler Menschen in Deutschland. Dieser Grundhaltung verdanken wir, dass sich Deutschland in einem mühsamen Prozess losgesagt hat vom Nationalsozialismus und seinen ideologischen Voraussetzungen, von antidemokratischer Gesinnung, Kriegsbegeisterung und Militarismus.
Deutschland hat sich das angeeignet, was nach 1945 Westdeutschland von den westlichen Alliierten übergestülpt und 1989 von den Ostdeutschen mit der friedlichen Revolution erstritten wurde: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat.
Dies konnte nur gelingen, weil Deutschland sich eingebunden sah und sieht in einem zu entwickelnden geeinten Europa und weil es auf alle Gebietsansprüche, Grenzverschiebungen und damit auf einen militanten Nationalismus verzichtete. So konnte das Vertrauen wachsen, das Versöhnung mit den Ländern ermöglichte, die unter dem nationalsozialistischen Terrorregime besonders gelitten haben: u.a. Frankreich, Polen, Tschechien, Russland und Israel.
Wenn in diesen Tagen von „Zeitenwende“ die Rede ist, wenn mit durchaus triumphalistischem Unterton behauptet wird, Deutschland sei nun in der Wirklichkeit angekommen, wenn im Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte von „Naivität“ und „Friedensdividende“ gesprochen und so getan wird, als müsse man „raus aus unserem strukturellen Pazifismus“ (so der Militärhistoriker Sönke Neitzel in der Leipziger Volkszeitung vom 26.02.2022), dann frage ich mich: Was soll damit eigentlich angezeigt werden?
War und ist es etwa falsch, seit Ende der 60er Jahre eine europäische Friedensordnung zu entwickeln, in der kriegerische Auseinandersetzungen keinen Platz haben und auf wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle Zusammenarbeit zu setzen? Ist falsch, einem dauerhaften Frieden zwischen Ländern mit sehr unterschiedlichen Lebensformen und nicht dem Krieg die absolute Priorität einzuräumen?
Ist es angesichts der menschlichen, ökologischen, wirtschaftlichen, kulturellen Totalzerstörung, die kriegerische Handlungen hinterlassen, nicht richtig, ihn unter allen Umständen zu vermeiden?
Manches, was jetzt geäußert wird, hört sich so an, als halte man es für einen politischen Fortschritt, dass wir in Europa „endlich“ wieder in eine Kriegssituation geraten sind, um wie in einem Wettkampf Überlegenheiten „zu messen“.
Doch was heißt hier „endlich“ und was bedeutet „Zeitenwende“? Wenige Monate nach der Friedlichen Revolution begannen auf dem Balkan kriegerische Auseinandersetzungen und im Januar 1991 brach der Irak-Krieg aus – so als ob man die Erfahrung einer erfolgreichen Revolution mit Kerzen und Gebeten ganz schnell übertünchen wollte mit dem Blut des Krieges.
Ist vergessen, dass 1995 Deutschland mehr oder weniger schweigend dem grausamen Feldzug Russlands gegen Tschetschenien zugeschaut hat? Hat sich nicht jeder Krieg nach 1945 als totales Desaster erwiesen? Wieso dann aber die immer wieder einsetzende Häme gegen all die, die für nichtmilitärische Konfliktlösungsstrategien plädieren?
Wieso lassen sich Menschen und Mächte immer wieder von denen, die auf Krieg setzen, auf die Gewaltebene ziehen, auf der es nichts zu gewinnen gibt? All diesen Fragen müssen wir uns stellen – unabhängig davon, wie wir derzeit zu Waffenlieferungen in die Ukraine stehen.
Darum müssen wir auch reden über die friedenspolitischen Versäumnissen in den vergangenen 20 Jahren. Da hat es auf Bundesebene keine durchschlagende Idee gegeben, wie wir denn zu einer stabilen Friedensordnung in Europa kommen – einem Europa, das nicht nur aus freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratien besteht; einem Europa, in der selbst innerhalb der EU Despoten und Autokraten die Demokratie angreifen.
Dass das nur mit Russland geht, sollte unstrittig sein. Es hat in Europa bis heute nicht ein Zuviel an „strukturellem Pazifismus“, sondern ein Zuwenig an friedenspolitischer Initiative gegeben. Das hat uns in eine Situation geraten lassen, in der ein Despot nicht zum ersten Mal ein Nachbarland mit Krieg überzieht.
Nur: Ist deswegen Friedenspolitik, eine nichtmilitärisch ausgerichtete Politik falsch, ein Irrweg, naiv? So stehen wir jetzt vor der unendlich schwierigen und herausfordernden Aufgabe, die Maxime gewaltminimierender Intervention mit Frieden bildenden Maßnahmen zu verbinden.
Wenn ich etwas an der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 zu kritisieren habe, dann dieses: dass er aktuell allein auf den Ausbau der militärischen Interventionsmöglichkeiten setzt.
Bei allem Verständnis dafür, dass die Bundeswehr dringend reformiert und entsprechend ausgestattet werden muss – das allein reicht nicht, um das friedliche Zusammenleben verschiedener Nationen zu ermöglichen. Vor allem sollte es nicht Ausgangspunkt eines gigantischen Aufrüstungsprogramms werden.
Dabei geht es nicht darum, „unschuldig“ zu bleiben. Auch der Pazifist macht sich schuldig. Nur: Die Erfahrung lehrt, dass Aufrüstungsprogramme nicht friedenspolitische Strategien, sondern militärische Interventionen fördern.
Auch gilt es der puren Behauptung zu widersprechen, als seien nichtmilitärische Konfliktlösungsstrategien mit größeren wirtschaftlichen, ökologischen, menschlichen, kulturellen Zerstörungen verbunden als Kriege. Das Gegenteil lässt sich nicht nur in Afghanistan nachweisen.
Wir benötigen also eine Perspektive, wie wir in Zukunft Konflikte und Interessensauseinandersetzungen jenseits des Krieges austragen und lösen. Das ist nicht nur ein frommer Wunsch, sondern eine Herausforderung an die politische Vernunft.
Noch einmal Willy Brandt in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises am 11. Dezember 1971 in Oslo: „Der Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, er ist die ultima irratio.“ Es wird höchste Zeit, dass wir Friedenspolitik, auch den „strukturellen Pazifismus“, als höchste Form vernünftigen Denkens und Handelns ansehen und danach handeln. Die Zeit alternativloser Optionen sollte vorbei sein.
Nachtrag: Im Januar 1995 haben Pfarrer Christian Führer (1943–2014) und ich einen „Aufruf zur Umkehr und Orientierung“ verfasst, dessen Aktualität mich gleichermaßen erschrecken lässt und aufrüttelt. Er wurde 1995 im Wortlaut in BILD Leipzig veröffentlicht. So ändern sich die Zeiten.
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