Der Angriffskrieg Putins legt sich krakenhaft und mit grausamer Wucht รผber die Ukraine. Zerstรถrung, Tod, menschliches Elend, Vertreibung, Verzweiflung โ nur mรผhsam und vรถllig unzulรคnglich kรถnnen Worte zum Ausdruck bringen, was Wladimir Putin und seine Vasallen derzeit anrichten.
Nichts, aber auch gar nichts davon ist in irgendeiner Weise gut. Nichts davon darf eine wie auch immer geartete Rechtfertigung erfahren. Nichts davon hat etwas mit Politik, Logik oder Vernunft zu tun. Alles ist ein einziges groรes Verbrechen, das sich โ Gott sei es geklagt! โ tรคglich selbst reproduziert.
Die unermessliche Tragik daran ist, dass an diesem Verbrechen schuldhaft auch die beteiligt sind, die in Russland zum Krieg gezwungen werden, denen in der Ukraine der Krieg aufgezwungen wird und die โ wie wir in Deutschland โ mittelbar von dem Krieg betroffen und in ihn involviert sind. Darum kennt auch dieser Krieg nur Verlierer. Diese Sicht ist allerdings nach wie vor umstritten.
Es ist sehr zu begrรผรen, dass die derzeitige Bundesregierung darum bemรผht ist, sich nicht in die unmittelbare kriegerische Auseinandersetzung hineinziehen zu lassen. Dennoch blicke ich sorgenvoll auf die Rhetorik so mancher Kommentator/-innen des Geschehens in Gesellschaft und Kirche.
Wieso soll eigentlich die Tatsache, dass vom russischen Prรคsidenten Putin ein brutaler Angriffskrieg gefรผhrt wird, der Grund dafรผr sein, der bisherigen Politik in Deutschland vom Pazifismus durchtrรคnkte Blauรคugigkeit zu unterstellen? Wieso wird die in der Friedensbewegung seit Jahrzehnten populรคre Parole โFrieden schaffen ohne Waffenโ der Lรคcherlichkeit preisgegeben?
Wieso wird die sog. โFriedensdividendeโ fรผr aufgebraucht erklรคrt? Wieso werden jetzt gigantische Aufrรผstungsprogramme neu aufgelegt, wohl wissend, dass diese nach Einsatz drรคngen? Mit welchen Grรผnden traut man kriegerischen Auseinandersetzungen mehr zu als Gewalt mindernden Konfliktlรถsungsstrategien?
Es stimmt, dass Kriege durch Kriegsbeteiligung beendet werden kรถnnen. Nur: Herrscht dann Frieden? Und: Welcher Preis wird dafรผr bezahlt? Frieden basiert auf Vertrauen und Versรถhnung. Beides kann nicht herbeigebombt werden, auch nicht in der Ukraine.
Deutschland hat im 20. Jahrhundert die bittere Erfahrung gemacht: Wer die Niederlage in einem Krieg mit nationalistisch-militaristischen Mitteln kompensieren will, potenziert den Irrsinn des Krieges. Genau das ist nach dem 1. im 2. Weltkrieg geschehen.
So kam es nach 1945 zu einem aus Trรผmmern gewachsenen neuen Konsens: Niemals darf von deutschem Boden noch einmal Krieg ausgehen. Niemals darf Krieg weiter eine Option in der internationalen Politik sein. Das war der Ausgangspunkt fรผr die Ablehnung der atomaren Bewaffnung in den 50er Jahren, fรผr den Widerstand gegen den Vietnamkrieg in den 60er Jahren.
Ebenso haben sich die Kirchen darauf besonnen, dass die Zeiten einer religiรถsen Rechtfertigung nationalistischer Waffengรคnge vorbei sein mรผssen. Denn Kriegsrechtfertigung ist nichts anderes als eine horrende Blasphemie/Gotteslรคsterung.
Das soll jetzt falsch sein? Soll der konziliare Prozess fรผr Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schรถpfung, den viele Christen/-innen weltweit aus der Verkรผndigung Jesu und Vernunftgrรผnden entwickelt haben, falsch gewesen sein? Wenn jetzt behauptet wird, der Ukraine-Krieg mรผsse die Deutschen aus ihrer Bequemlichkeit aufwachen lassen, und damit so getan wird, als seien die Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten friedenstrunken und benebelt durch die Weltgeschichte gestolpert, so ist dies ein gefรคhrlicher Zynismus.
Nein, es besteht kein Anlass, den Deutschen oder Europรคern Friedenswillen abzugewรถhnen. Es besteht kein Anlass, Friedenserziehung aus dem Bildungskanon zu streichen. Es besteht kein Anlass, das Evangelium zu verbiegen.
Etwas anderes ist jetzt vonnรถten: Wir haben dafรผr zu sorgen, dass bei uns die machtbesessenen, kriegsbereiten Putins, Trumps und Erdogans keine Chance haben. Wir haben alles zu tun, damit sich Nationalismus und Autokratismus nicht noch einmal in die Kรถpfe und Herzen der Menschen einnisten.
Wir haben alles zu tun, โin einem geeinten Europa dem Frieden der Welt zu dienenโ (Prรคambel des Grundgesetzes). Wir haben der Tatsache Rechnung zu tragen, dass alle Kriege nach 1945 verbrannte Erde, zerstรถrte Stรคdte, Tod und Verderben, aber keinen Frieden, keine Konfliktlรถsungen hinterlassen haben. Dauerhafter Frieden kann nur geschaffen werden, wenn wir auf den Einsatz kriegerischer Mittel weitgehend verzichten.
Bleibt die Frage: Was ist, wenn ein Putin dennoch auf Krieg setzt und ihn รผberfallartig beginnt? Dann ist vor allem wichtig: sich nicht auf diese Ebene ziehen zu lassen; sich mit zivilen Mitteln den Kriegsverbrechern in den Weg stellen und den Einsatz von Gewalt auf das absolute Minimum zu begrenzen.
Ich weiร, dass spรคtestens jetzt manche/r aufheult: Das ist nur noch naiv! Gegenfrage: Und was ist das, was wir derzeit erleben? Den Triumph sollten wir also Putin nicht lassen, dass er unsere Bereitschaft zu einem friedlichen Zusammenleben in Europa zersetzt.
So komme ich zu einer sehr verwegenen Vorstellung: Mรผssten nicht jetzt Millionen Europรคer/-innen sich in Richtung Ukraine aufmachen und unbewaffnet, friedlich in das Land ein-demonstrieren (um das zweifelhafte Wort โeinmarschierenโ zu umgehen)? Wรคre das nicht die kostengรผnstigste und effektivste Maรnahme, um den Kriegsherren in die Arme zu fallen?
Haben nicht Mahatma Gandhi 1930 mit seinem Salzmarsch und Martin Luther King 1965 mit den drei Mรคrschen von Selma nach Montgomery gezeigt, wie erfolgreich solche Aufbrรผche sein kรถnnen? Mรผssten wir nicht in diese Richtung denken und handeln, um endlich aus der tรถdlichen โKriegslogikโ herauszukommen? Wรคre das nicht vernรผnftig โ und erscheint dagegen nicht jeder kriegerische Einsatz schrecklich naiv?
Ich weiร, dass nicht wenige abwinken werden: absurd. Aber was bleibt uns in allgemeiner Erschรผtterung, Wut und Ratlosigkeit anderes, als auf den Glauben zu vertrauen, der Berge versetzen kann, โder Bogen zerbricht, Spieรe zerschlรคgt und Wagen mit Feuer verbrenntโ (Die Bibel: Psalm 46,10)? Das erscheint mir menschen- und wirklichkeitsnรคher zu sein als weiter wie ein Blinder im Teufelskreis der Kriegslogik zu verharren.
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