„Zehn, einhundert, eintausend!“ In der Pandemie haben sich viele von uns zu Graf Zahl aus der Sesamstraße entwickelt. Wir leben zurückgezogen, haben einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus und sind ein wenig schrullig geworden. Aber vor allem beschäftigen wir uns ständig mit Zahlen. Manchmal macht das Spaß, zum Beispiel, wenn die Corona-Inzidenz sinkt oder die Impfquote steigt.
Eine weitere Zahl, deren Entwicklung auf den ersten Blick erhellend sein könnte, hat der Paritätische Wohlfahrtsverband Ende vergangenen Jahres veröffentlicht. Die Zahl ist 17,9. Genauer gesagt: 17,9 Prozent Armutsquote in Sachsen im Jahr 2020. Das sind immerhin 1,5 Prozentpunkte weniger als noch zehn Jahre zuvor.Spätestens seit der Pandemie haben wir verinnerlicht: Wenn schlechte Zahlen sinken, dann ist das was Gutes. Oder wie Graf Zahl sich freuen würde: ha ha ha!
Jede/-r Sechste ist arm
Aus der Pandemie haben wir allerdings auch gelernt: Wenn schlechte Zahlen sinken, aber trotzdem nicht klein sind, ist das kein Grund zur Freude. Eine Armutsquote von 17,9 Prozent ist immer noch über dem Bundesdurchschnitt, der mit 16,1 Prozent ebenfalls ziemlich hoch ist.
Die Quote bedeutet, dass ungefähr jede/-r Sechste in Deutschland arm ist; dass also rund 13,4 Millionen Menschen über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens aller Haushalte verfügen. Darunter fallen beispielsweise Paare, denen monatlich weniger als 1.688 Euro zur Verfügung stehen oder Alleinerziehende mit zwei kleinen Kindern, deren Monatseinkommen geringer als 1.801 Euro ist.
Es gibt noch mehr Daten, die sogar Graf Zahl die Stimmung vermiesen würden. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist jede/-r dritte Vollzeitbeschäftigte in Sachsen Geringverdiener/-in. Das heißt, ein Drittel all derer, die Vollzeit schuften, bekommen dafür ein Bruttogehalt von weniger als 2.284 Euro im Monat. Am schlechtesten ist die Quote im Erzgebirgskreis mit mehr als 40 Prozent Geringverdiener/-innen.
Die Stadt Leipzig steht besser da. Hier betrifft es „nur“ ein Viertel der Vollzeitbeschäftigten. Im bundesweiten Schnitt hat knapp jede/-r Fünfte ein so geringes Einkommen.
All diese Zahlen machen nicht nur schlechte Laune, sondern ganz existenzielle Probleme. Das bestätigen wiederum Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Demnach haben Männer aus der niedrigsten Einkommensschicht in Deutschland eine fast neun Jahre niedrigere Lebenserwartung als Männer aus der höchsten Einkommensschicht. Bei Frauen sind es knapp viereinhalb Jahre weniger.
Hinzu kommt, dass laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) arme Menschen im Schnitt bis zu sechs Jahre früher pflegebedürftig sind als wohlhabende.
Die wenigsten haben das meiste
Diese Zahlen seien seit Jahrzehnten bekannt, doch im Vergleich zu den Corona-Zahlen höre hier kaum jemand auf das RKI, regte sich kürzlich der Sozialmediziner Gerhard Trabert in der Tagesschau auf. Die Linkspartei hat ihn als Kandidaten zur Bundespräsidentenwahl aufgestellt, auch, um die Themen Armut und soziale Gerechtigkeit in die Parlamente und öffentliche Debatte zu bringen.
„Wenn man über Armut redet, muss man auch über Reichtum reden und über eine gerechte Verteilung von Ressourcen“, sagte Trabert im Tagesschau-Interview. Es dürfe nicht akzeptiert werden, dass 45 Haushalte in Deutschland über 55 Prozent des Vermögens verfügen. Tatsächlich haben Forscher des DIW 2018 festgestellt, dass die 45 reichsten Haushalte in Deutschland zusammen ebenso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, nämlich etwa 214 Milliarden Euro.
Was sagt Graf Zahl zu alledem?
In einer Folge der Sesamstraße lässt er sich am Bankschalter sein gesamtes Vermögen in Zehn-Mark-Scheinen auszahlen, um es zu zählen. Genau eine Million und drei Scheine zählt er, also zehn Millionen und dreißig Mark. Beim Zählen wirft er die Scheine achtlos hinter sich.
Das weckt den Verdacht, dass er nicht von seinem Bankkonto abhängig ist, vielleicht, weil er nicht nur in einem Schloss lebt, sondern weitere Kapitalanlagen besitzt. Bei seiner Zählerei stresst er auch noch den Bankangestellten. Sieht aus, als wäre Graf Zahl bei „eat the rich“ mitgemeint.
Interessanter als der Kontostand von Muppets ist aber die Frage, warum sich so wenig an der sozialen Ungleichheit ändert. Wir wissen, dass Armut die gesellschaftliche Teilhabe einschränkt, Menschen krank macht und das Leben verkürzt. Trotzdem scheint es irgendwie okay, dass jede/-r Sechste davon betroffen ist.
Wir leben einfach so mit Ungleichheit in unserer Gesellschaft wie Graf Zahl mit den Spinnweben in seinem Schloss – gehört dazu, kann man nix machen.
Die Debatte zählt – hoffentlich
Der nominierte Bundespräsident Trabert ist seit Jahrzehnten engagiert und hilft unter anderem obdachlosen und geflüchteten Menschen. Er sagte der Tagesschau, er habe es als Pflicht empfunden, die relativ aussichtslose Kandidatur anzunehmen, um „stellvertretend als Fürsprecher für Menschen am Rande der Gesellschaft aktiv zu werden“. Die öffentliche Bühne bekommt er dadurch auf jeden Fall.
Vielleicht regt Trabert eine neue Debatte an. Bisher sieht die eher mau aus. Im Bundestag ist das Wort „Armut“ 2019 laut einem Datentool der Wochenzeitung „Die Zeit“ 220 Mal gefallen. Seinen bisherigen Höhepunkt hatte es 2010, als es 557 Mal in Plenarsitzungen verwendet wurde. Absoluter Tiefpunkt war das Jahr 1957 mit null Erwähnungen.
Die „Umverteilung“ hatte ihre Hochphase zwischen 1980 und 2000 mit bis zu 123 Nennungen pro Jahr. Aber solche Daten sind eher was für unseren inneren Graf Zahl und bringen noch keine Veränderung.
Anstatt zu zählen, sollten Reiche wie der Graf lieber einzahlen: in gemeinschaftlichen Wohlstand und ein gutes Leben für alle.
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