Genau zwei Jahre ist es her, als Tobias R. in eine Hanauer Shisha-Bar stürmt und um sich schießt. Der Notausgang ist auf Anweisung der Behörden verriegelt, eine Flucht ist unmöglich. Elf Menschen sterben an diesem Tag, erst neun seiner Opfer, später erschießt R. seine Mutter und dann sich selbst. Seine Tat bleibt von ihm, war rechtsextremistisch motiviert und traf jene, die in unserer Gesellschaft marginalisiert sind. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Das sind die Namen derer, die am 19. Februar 2020 von Tobias R. mitten aus dem Leben gerissen wurden.
Ein Datum, welches bis heute fortwirkt. Deutschlandweit fanden Gedenkveranstaltungen statt, Medien thematisieren immer und immer wieder, was alles offenblieb an Informationen, wie leider meist nach solchen Taten. Während der NSU offenkundig gezielt im Behördennebel verschattet wurde und die Ermordung Oury Jallohs bis heute ungeklärt ist, deuten die Erkenntnisse im Fall Tobias R. auf extremistische bis verschwörungsradikalisierte Haltungen hin, welche kein Hindernis für einen legalen Waffenbesitz darstellten.In Leipzig versammelten sich aus diesem Anlass ab 17 Uhr 500 Menschen zu einem Demonstrationszug, der vom Torgauer Platz bis zum Leipziger Marktplatz führte. Dort wuchs die Gedenkkundgebung, zu der die Gruppierung „Migrantifa Leipzig“ aufgerufen hatte, auf über tausend Menschen an. Wie schon in den Jahren zuvor war alles darauf ausgerichtet, die Opfer der Tat ins Zentrum zu stellen, ihre Biografien wurden verlesen, in den anschließenden Redebeiträge verschiedener Gruppen wurden Rassismus und die Polizeiarbeit im Umfeld der Geschehnisse am 19. Februar 2020 thematisiert.
Gefordert wurde eine lückenlose Aufklärung dieses und weiterer rassistisch und rechtsextremistisch motivierter Anschläge, sowie ein konsequenter Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft. Kritisiert wurden dabei vor allem Polizei, Justiz und Politik. Das Verhalten der Behörden am Tag des Anschlags und danach hatte genug Anlass geboten.
Neben vielen anderen Beispielen thematisierte ein Redebeitrag, dass die Familie von Mercedes Kierpacz vor dem Tatort von SEK-Beamt/-innen eingekesselt worden war, weil sie auf den Leichnam der Ermordeten wartete. Genau von dem SEK, das 2021 aufgelöst wurde, nachdem rechtsextreme Chatgruppen in der Frankfurter Polizei aufgeflogen waren.
Nicht minder erschreckend: Im Jahr 2021 verboten die Hanauer Behörden eine Demonstration zum Gedenken an die Opfer des Anschlags unter dem Vorwand der Pandemie, während zeitgleich überall in Deutschland Proteste gegen die „Coronadiktatur“ stattfanden und teils polizeilich begleitet wurden.
Darüber hinaus wurde in mehreren Redebeiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass der Anschlag in der Shisha-Bar einen besonders sensiblen Raum ins Visier nahm: einen Ort, an dem diskriminierte Menschen einen Kommunikationsraum für sich finden.
Am Ende der Veranstaltung wurden vor Bildern der Opfer Blumen und Kerzen niedergelegt. Viele Menschen standen Tränen in den Augen. Die Wut und Trauer über die grausame Realität, in der viele diskriminierte Menschen in Deutschland leben, war allgegenwärtig.
Der Anschlag reiht sich ein in unzählige Fälle, bei denen Migrant/-innen, Jüd/-innen, FLINTA´s und andere Minderheiten Opfer von Gewalt werden. Die Täter werden dabei noch immer viel zu oft als „einsame Wölfe“, oder „psychisch krank“ beschrieben, obwohl schon PEGIDA, wie auch die AfD und aktuell die Coronaproteste zeigen, dass Hass, Gewalt, Verschwörungstheorien und rechtsextreme Ideologie immer tiefer in die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ eindringen können.
Und dort auch Täter finden, denen der verbale Hass allein nicht genug ist.
Impressionen vom 19. Februar 2022 in Leipzig
Video: LZ
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