Wochenende in Rest-Pandemiezeiten – kleine Partys sind drin. Ich beteilige mich an einer und gehe in einen Leipziger Konsum, um die dafür erforderlichen Partyspezifika zu kaufen. Außerdem landen einige Fertigsalate im Korb. Ist zwar ungesund und fettig das Zeug. Aber ich steh drauf und mir wurde schon vor Ewigkeiten von führenden Kriminellen mit Berufstrinkerethos Fettiges plus Konterbier als einzig wirksames Katergegenmittel empfohlen. Das ich seither erfolgreich anwende.
Die Dame an der Kasse ist freundlich und gut drauf. Vor mir wühlt ein junger Vater nach Centstücken in seiner Börse, während sein Kind lachend auf den Kasten Köstritzer in meinem Korb zeigt. Ich mag schwarzes Bier und vielleicht war’s ja ein prägender Moment für den Kleinen und er wird sich deswegen später von überpreister Dünnbrühe fernhalten. Zurück in der Partylocation stehe ich noch zwei Telkos durch, weil ich mich habe breitschlagen lassen, ein Ersatzevent fürs abgesagte Leipzig Liest-Festival mitzuorganisieren.
Diese Gemengelage hält mich davon ab, die News so konzentriert wie sonst zu lesen. Eventorganisation ist ein Stressjob und angesichts der Lebensjahranzahl, die ich auf dem Buckel habe und all der Zigaretten, die ich täglich rauche, sollte ich mich von solchen Aufgaben fernhalten.
Aber in dem Falle ruft die Pflicht. Außerdem ist die Berufsehre im emotionalen Spiel und so lande ich letztendlich eben im Organisationsstresstrubel.
Ein sehr geschätzter Freund und Kollege in Irland wollte mir schon seit Tagen eine Chatdiskussion über Putins Pläne in der Ukraine aufdrücken, aber ich verweigerte mich und bewegte mich auch kaum auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen, die man sonst als Autor so fast täglich bespielt.
Die Party startet gegen neun Uhr abends und ich bin da mit meinen Telkos bis dahin fast durch. Es geht darin unter anderem um Kulturförderung und ich bin einmal mehr davon überzeugt, dass die geringe Anzahl der wirklich innovativen und erfrischenden Kulturevents in unserer Berliner Republik dem Umstand geschuldet ist, dass normal denkende und sogar etwas überdurchschnittlich intelligente Menschen von Verwaltungsförderrichtlinien überfordert werden. Ich hege auch schon ewig den Verdacht, dass dahinter Absicht steckt.
Da ist eine Verschwörung zwischen alternden Theaterleuten, Til Schweigers Produktionsfirma und Disney am Werk. Die wollen, dass Pop- und Hochkultur weiter dröge bleiben, damit sie dem Publikum weiterhin ungestört ihren halbverdauten Drei-Akte-Film-Kackscheiß und maschinell produzierten Popsong-Dosendreck unterjubeln können.
Vielleicht stecken in der Gesamtverschwörungsgemengelage auch ein paar Kritiker und mittlere Medienmanager mit drin. Die von Zeit zu Zeit geistig etwas zu trocken aufgestellten Hauptverwaltungsvorschriftenverfasser/-innen bloß halbguten, aber von Till S. persönlich vorgekosteten Rotwein spendieren, um die so bei der Verschwörungsstange zu halten.
Die Telkos sind vorbei, die Gäste eingetroffen, der erste Toast gesprochen, der Käse und das Baguette werden angerissen. Die Konversation dreht sich um Modern Dance, Chaosmagie und Klaus Kinski. Ich beginne frohgemut mein kombiniertes Trink- und Konversationsprogramm und lümmle dazu stets nahe der Küche umher – weit weg vom Telefon. Aber irgendeiner ruft eben immer an.
Also gehe ich ran, spreche kurz und sehe dabei die locker zwanzig Pressepushmeldungen auf dem Bildschirm. Okay, ich bin ein alter Newsjunkie, ich bin angefixt und lese die erste, dann die zweite, dritte, vierte Pushmeldung. Alle drehen sich um die Lage in der Ukraine und eine stammt von einem Freund, der als Kriegsreporter arbeitet.
Die Partysituation gestaltet sich derart, dass die Küche sich geleert hat. Die Konversation im Wohnzimmer hat sich an der potenziellen Eignung von Frank Sinatra Stücken und klassischen Punksongs für Modern Dance Choreographien festgefressen. Ich weiß, dass ich zeitweise blind und taub für meine Umgebung mit einem neuen Bier in die Küche gehe, mich dort auf einen Stuhl setzte und meine Kontaktliste durchscrolle. All das geschieht aus unbewussten Impulsen heraus, nehme ich an.
Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, wie der Königsberger Philosoph einst schrieb und darüber hinaus sogar hin und wieder zur Selbstreflexion fähig. So bleibt mir dieser Moment in der Küche, das leise Reden der anderen im Wohnzimmer und der Geruch nach britischem Tabak und allmählich schmelzendem Käse wohl ewig im Gedächtnis. Obwohl ich am Küchentisch zugleich das Gefühl habe, zurück in Nepal zu sein, mitten in einem Bürgerkrieg. Ich war damals für einen Buchauftrag dort.
Ich spüre wieder dasselbe Ziehen und Stechen wie damals im Bauch und dieselbe alte Angst kriecht über mich. Ich schreibe SMS und WhatsApp-Messages nach New York, London, Halle/Saale und andre Orte, wo Freunde, Kollegen und ehemalige Gefährten leben, die alle prädestiniert dafür sind, demnächst einen Flug in die Ukraine zu buchen, weil sie Soldaten, Reporter oder UN-Beobachter sind. Wir beten, hoffen und wünschen, dass es einfach nicht passiert, obwohl es eben doch passiert.
Ein Freund, den ich ewig nicht gesehen habe, ist als Fotojournalist immer in exakt der Gegend, in der es dicht an dicht Blei regnet. Er antwortet einfach nur: Bleib safe. Das antwortet er mir, der sicher bei einer Party in Leipzig ist und Bier hat und Zigaretten und darüber nachdenken sollte, wie wir morgen die Partyreste gut verwalten können.
Ich bin vor Respekt und Angst steif und denke an die Toten, die ich seinerzeit in der Hitze in Nepal sah. Und die keinen interessiert hatten. Außer den Ausländer, der seine Angst so heftig zu verbergen versuchte, dass er sich mit seinen Fingernägeln rote Wunden in die Handflächen bohrte. Der alte Affe Angst ist – um einen Oldie-Popsong zu zitieren – gekommen, um zu bleiben.
Ich zweifle an allem, was mich noch ein paar Stunden zuvor so unter Strom setzte. Die Erinnerung an den Geruch von in Sommersonne langsam verwesenden Toten kann das anrichten. Dennoch werden wir ein Literaturfestival ausrichten. Wir werden Kinder lachen hören und Dichter sehen, deren Job darin besteht, in Lügen die Wahrheit zu sagen.
Wir werden das Wort feiern und den Schrecken bannen, indem wir ihn herbeizitieren. Ich werde den Gestank der Leichen in der Sonne durch Telkos und Verhandlungen verdrängen. Wir werden uns wie zivilisierte Menschen verhalten. So wie wir es taten als Syrien brannte und damals die Ukraine bereits loderte und der Irak und Afghanistan.
Doch der alte Affe Angst kam, um zu bleiben und einige von uns werden vielleicht nur verzögert mitlachen und nur mühsamer in ihren Rhythmus finden, falls die DJ-Götter auf ihren Podien demnächst wieder zu den Partymessen laden. Einige von uns werden wissen: Die Einschläge sind näher gekommen.
„Haltungsnote #37: Der alte Affe Angst – Eine Kolumne über eine Party in Rest-Pandemiezeiten“ erschien erstmals am 25. Februar 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 99 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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