Als die evangelischen Kirchen das 500-jährige Reformationsjubiläum 2017 vorbereiteten, war es ein besonderes Anliegen des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, das Jubiläum als „Christusfest“ gemeinsam mit der katholischen Kirche zu begehen.

„Das Reformationsjubiläum 2017 ist im Kern ein Christusfest, das die Botschaft von der freien Gnade Gottes ausrichten will an alles Volk“, schrieb Bedford-Strohm an den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx. Dieser appellierte in seiner Antwort an die besondere Verantwortung, „dass durch das Reformationsgedenken die Annäherung, die zwischen unseren Kirchen erreicht wurde, nicht gefährdet wird, ja mehr noch, dass wir unsere Einheit im Glauben sichtbar werden lassen und ihr in einer Weise Ausdruck verleihen, die die Christen in ihrem Glauben bestärkt und die die Menschen, die unseren Kirchen fernstehen, uns als Brüder und Schwestern im Glauben erleben lässt.“

So erfreulich, selbstverständlich und segensreich das ökumenische Zusammenleben und -wirken evangelischer und katholischer Christen vor Ort ist – ich selbst stand dem proklamierten Christusfest sehr kritisch gegenüber. Denn damit kommt der Aspekt der Reformation nicht zur Sprache, der ganz wesentlich die Auseinandersetzungen im 16. Jahrhundert geprägt hat: die autoritär, klerikal hierarchische Verfasstheit einer Kirche, die vor allem machtpolitische Interessen absichert und sich wie eine Festung dem Geist Jesu Christi in den Weg stellt.

Mit ihrer autoritären Hierarchie begab sich die Kirche zum einen in Widerspruch zum 1. Gebot, indem sie sich gottgleiche Funktionen anmaßte. Zum andern war die Klerikaldiktatur eine Bedingung für die horrenden, auch moralischen Missstände. 500 Jahre später steht die katholische Kirche vor den gleichen Problemen und damit vor einem Scherbenhaufen verschlafener Reformen. Das „gefährdet“ die Ökumene, und das kann durch kein „Christusfest“ beiseite geräumt werden.

Auch die evangelischen Kirchen hätten 2017 gut daran getan, sich selbstkritisch zu prüfen, was in ihnen noch an überkommenen autoritären Strukturen wirksam ist, die der Christusbotschaft im Wege stehen. Doch diese Probleme kamen 2017 kaum zur Sprache.

Dafür befinden sich beide Kirchen in einer dramatischen Existenzkrise. Diese wurzelt nicht nur in der rasant fortschreitenden Säkularisierung, sondern vor allem im Vertrauensverlust und wachsender Unglaubwürdigkeit, mit verursacht durch eine verquere Sexualmoral nach außen und praktiziertem sexuellem Missbrauch nach innen. Letzterer hat in der katholischen Kirche unmittelbar etwas zu tun mit einer Institution, die sich kollektiv gegen jede interne und externe Kontrolle abschottet, aber gleichzeitig für sich eine Leitfunktion in sexualethischen Fragen beansprucht.

Man denke nur an das anmaßende Auftreten der katholischen Kirche in der Debatte um § 218 StGB und später ihrem vom Papst erzwungenen Rückzug aus der Schwangerschaftsberatung. Es bleibt nicht folgenlos, wenn eine global agierende Kirche von einem diktatorischen System, genannt Vatikan, geleitet wird, das darüber hinaus noch einen weltpolitischen Machtanspruch erhebt.

So richtig es ist, dass sexualisierte Gewalt, sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in vielen gesellschaftlichen Bereichen – von der Familie bis zum Sportverein, von der Schule bis zur Jugendgruppe in Kirchgemeinden – eine traurige Wirklichkeit ist, die katholische Kirche ragt aus diesem Sumpf deswegen heraus, weil ihre Machtstrukturen und der Pflicht-Zölibat für Priester den sexuellen Missbrauch befördert, potenzielle Täter anzieht und die Vertuschung geradezu garantiert.

Es ist ziemlich klar: Ohne dass die katholische Kirche das nachholt, was sie vor 500 Jahren versäumt hat, wird sie sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können. Um es deutlich zu sagen: Auf dem Hintergrund des massenhaften sexuellen Missbrauchs bedeutet Evangelisierung nichts anderes als Demokratisierung der Strukturen im Sinne Jesu: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ (Die Bibel: Markus 10,42-44)

Wenn es also eine Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal geben muss, dann die Zerschlagung der Machtapparate und die Beendigung des Pflicht-Zölibats. Auch das ist keine Garantie dafür, sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche auszuschließen. Aber nur so kann Kontrolle etabliert, Vertuschung verhindert, Machtmissbrauch eingedämmt werden. Sexualisierte Gewalt ist die deutlichste und widerlichste Form von durch nichts legitimierter Machtausübung und Herrschaft.

Als Kardinal Marx im Sommer des vergangenen Jahres wegen des festgestellten Versagens in seinem Bistum Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten hat, sprach man von einem mutigen Schritt. Aber was heißt hier mutig? Er konnte davon ausgehen, dass Papst Franziskus aus machtpolitischen Erwägungen den Rücktritt ablehnt. Wie sollte auch eine Hierarchie, deren Exekutive sich für unfehlbar hält, zulassen, dass jemand öffentlich strukturelles Versagen einräumt und Konsequenzen zieht?

Hinzu kommt, dass Kardinal Marx sich mit seinem Vorgehen genau dem autoritären System unterwarf, das eine Bedingung für die Zustände ist, die ihn zum Rücktrittsgesuch veranlassten. Als dann der Papst tatsächlich den Rücktritt ablehnte, verpasste Marx den wirklich mutigen Schritt: von sich aus dem Bischofspalais zu verabschieden. Stattdessen praktizierte er den Gehorsam, der mit Christusnachfolge wenig bis nichts zu tun hat, dafür aber ein Mosaiksteinchen im autoritären System von Herrschaft und Unterdrückung darstellt.

Was jetzt also ansteht? Natürlich zuerst und vor allem eine vollständige Aufarbeitung des Missbrauchsskandals auf allen Ebenen – ohne die Schuld auf andere zu schieben. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. versuchte 2019, in einem mit Papst Franziskus abgestimmten Aufsatz im bayerischen „Klerusblatt“ den sexuellen Missbrauch den 68er in die Schuhe zu schieben: „Zu der Physiognomie der 68er-Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“

Parallel dazu hätte sich zeitgleich „ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte“. Eine „wehrlose“ Kirche als Opfer der 68er! Solch absurde Entlastungsangriffe unterstreichen: Eine zu 100 Prozent von Männern dominierte Institution, die autoritär verfasst ist, ist selbst nicht in der Lage, aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen. Deswegen müssen Organe des demokratischen Rechtsstaates die Aufgabe mit übernehmen.

Denn es geht ja vor allem und in erster Linie um die Opfer des sexuellen Missbrauchs, ihre Würde und ihre angemessene Entschädigung. Ähnliches gilt auch für den sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche. Sie hat keinen Grund, sich in irgendeiner Weise zu erheben. Aber es gibt eben den einen, wesentlichen Unterschied: die institutionelle Verfasstheit, in der sich ein für sexualisierte Gewalt insbesondere gegen Kinder und Jugendliche günstiges Klima entfalten kann.

Darum ist es mehr als angebracht, im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal an die Reformation vor 500 Jahren zu erinnern. Der katholischen Kirche wird nicht erspart bleiben, sich von der Selbstermächtigung der Kleriker und ihrer ideologischen Begründung auf allen Ebenen zu befreien.

Davon sollten wir viel mehr reden – und in diesem Sinn den katholischen Schwestern und Brüdern an der Basis Mut machen, jetzt nicht auf halber Strecke stehenzubleiben. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen sind alle Christen der Botschaft Jesu verpflichtet. Diese verträgt sich nicht mit Hierarchien und struktureller Gewalt. Zum andern sind wir als evangelische Kirche von den heftigen Eruptionen in der katholischen Kirche genauso betroffen.

Der Außenstehende differenziert in der Regel nicht zwischen katholisch und evangelisch. Darum kann uns nicht gleichgültig sein, ob die katholische Kirche heute in der Lage ist, das nachzuholen, was vor 500 Jahren einem Teil der Kirche gelang: sich aus der babylonischen Gefangenschaft struktureller Gewalt zu befreien.

Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de

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Da schmeißt einer mit Steinen, der sich gerade selbst zum Werkzeug der (Staats-)Macht macht: gut, dass es Sündenböcke gibt, die es einem ersparen, über die eigenen (verborgenen) Verfehlungen nachzudenken. Und die muss es geben: ansonsten würde man sich nicht zu derart trumphierendem Redeschwall hinreißen lassen. Sondern demütig und betroffen schweigen und zusehen, dass man die Dreckhaufen vor und hinter der eigenen (Kirchen-)Tür ein bisschen kleiner macht.

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