Neulich hatte ich einen lebhaften Traum. Ein Tag im Jahr 2048. John H. Hanson II, Bürgermeister von Seattle, der weltweit ersten supersmarten City, tippt in seinem Büro auf den Apple-Communicator und lässt sich mit seinem Leipziger Amtskollegen verbinden. Er will wissen, weshalb seine Stadt von einer Verbrechenswelle nach der anderen heimgesucht wird und in Beliebtheitsrankings nur unerheblich über einer Pestpandemie rangiert.
Seattle hat sich immer weiter ins Umland ausgedehnt, der ÖPNV dort, obwohl hochmodern, wird zu wenig genutzt, weshalb die Highways in die Stadt regelmäßig verstopft sind, im Stau ist ein autonomes E-Auto so nutzlos wie eine Benzinkutsche. Die City ist ab Büroschluss verwaist und die um sie herumliegenden Quartiere unerschwinglich für die meisten Menschen, weswegen die ins Umland ziehen, wo sie jedoch auch kaum günstigeren Wohnraum finden.Selbst Leute mit zwei qualifizierten Jobs leben in Campervans, Zelten oder Obdachlosenheimen, von denen es allerdings viel zu wenige gibt. Sie tun das, um ihre Arbeitsplätze pünktlich zu erreichen und ihren alltäglichen unglamourösen, aber für die Kommune notwendigen Jobs nachgehen zu können. Drogenmissbrauch und Suizide sind eine Plage in der Stadt.
Der Leipziger Bürgermeister schildert dem Amerikaner seine Stadt. Um das Alte Rathaus herum findet ein Wochenmarkt statt, dessen Buden und Stände sich weit in die angrenzenden Straßen hinaus verzweigt haben. Die Ware der Händler wurde am Morgen in die beiden zentralen städtischen Verteilzentren geliefert und von dort aus per Drohne, Lastenrad oder Straßenbahn zu den Buden und Ständen gebracht, jeder Händler hat seinen Lagerbereich in den Verteilzentren, was ihn keine Unsummen kostet.
Ein LKW im Innenstadtbereich ist so selten geworden, dass kleine Jungs sich begeistert gegenseitig darauf aufmerksam machen, sobald mal einer auftaucht. Zwischen den Händlern haben Künstler und Gaukler ihre Büdchen und Stände, der Markt brummt, ist bunt und dauert bis zum späten Nachmittag. Von solchen Märkten existieren vier weitere in der Stadt.
Das Gebäude der ehemaligen Höfe am Brühl ist längst wieder für Wohnungen umgenutzt worden, wo Mieten erschwinglich sind und auf dem Ring fahren zwischen den Straßenbahnen mehr Fahrräder als Autos. Ein Auto ist Luxus in Leipzig. Der ÖPNV ist rund um die Uhr effizient, schnell und sauber verfügbar und die P+R Plätze am Stadtrand voller Carsharingwagen.
In jedem Quartier sind mindestens ein Viertel der Gebäude in kommunaler Hand und unterliegen einer Mietpreisbindung, hier gelten auch Vorschriften, die für soziale Vielfalt sorgen. Es existieren lokale Online-Quartiersnetzwerke, die innerhalb der Nachbarschaften für sozialen Zusammenhalt sorgen.
Einige Straßenzüge haben eine Reihe ganz verschiedener Läden und Handwerker angezogen, deren Miete von der Kommune bewusst gestützt wird, um dort für Vielfalt zu sorgen. Jedes dieser Geschäfte dient der Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs, das reicht von der Huthändlerin, über den Mechaniker und den Selfrepairshop bis zum Sushikoch. Es gibt zwar Supermärkte, aber es sind weniger als früher.
Wer online bestellt, sollte gut wählen. Onlineware, die von außerhalb einer festgelegten Bannmeile um die Stadt angeliefert werden musste, kann nur für happige Preise an die Händler zurückgeschickt werden. Während gleichzeitig keine Auslieferungslager für den Onlinehandel mehr innerhalb dieser Bannmeile existieren.
Viele Straßenzüge in der Stadt sind begrünt. Die Flächen werden von den Bewohnern und den städtischen Angestellten gepflegt. Wobei keine der Communityaktivitäten Pflichtprogramm ist.
John H. Hanson II unterbricht seinen europäischen Amtskollegen aufgeregt. Großmärkte am Stadtrand, ein erschwinglicher ÖPNV und Mietpreisbindungen unterliegende Viertel im Innenstadtbereich, Begrünung und Viertelnetzwerke, Repairshops und Nachtbürgermeister, die sich um kulturelles Straßenleben kümmern – all das ist doch so analog und altmodisch wie Brustharnische!
Das gibt sein Leipziger Amtskollege zu, aber erklärt, dass man sich für die Zukunft der Städte in Europa an deren Vergangenheit orientiert hätte. Märkte, diverse Viertel, weniger Individualverkehr und eine besonders breitgefächerte Einkaufsstruktur abseits der großen Supermarktketten sind es, was in Leipzig Lebensqualität ausmachten und außerdem dafür sorgten, dass die Kriminalitätsraten niedriger blieben als anderswo. Dass die Stadt weiter ins Umland wuchs, führte zu Problemen, aber sei zu handhaben.
Der Leipziger erläutert, dass man dies finanzieren konnte, weil die EU sich einmal nicht den sonst üblichen Lobbyerpressungen beugte, sondern konsequent darauf bestand, dass alle Onlinehändler mit mehr als einer halben Milliarde weltweitem Umsatz in der EU faire Steuern bezahlen, von denen wiederum ein Viertel in einem Städtefonds landete, aus dem man die Anpassung finanzierte.
Sein U.S. Amtskollege, der gerade Amazon eine weitere Steuerentlastung in Höhe von 4 Milliarden Dollar zugestanden hat, damit die ihre Zentralen nicht nach Saigon oder Nigeria auslagern, beendet frustriert den Call.
Er schaut aus seinem Büro auf den durchgesmarteten Büroturm gegenüber, wo eben Künstler in einer Guerillaaktion einen Schwarm böse grinsender Totenköpfe gegen die Glasfronten projizieren und Mietgarantien, Mutterschutz, bezahlbare Krankenversicherungen und niedrigere Studiengebühren fordern.
Anschließend bekommt er einen Anruf von Jeff Bezos, der keinen Tag älter wirkt als 53 und ihm erklärt, dass er plane, Teile seiner Rechenzentren in die Mondansiedlungen Meta, Tesla oder Orange outzusourcen. Dort gelte ja weiterhin ein Steuersatz von nur 0,02 Prozent.
Der Bürgermeister findet, dass ihn die grinsenden Totenköpfe gegenüber sowohl an die neuesten PR-Porträtfotos von Elon Musk erinnern.
Sein Leipziger Amtskollege sitzt am Abend auf einer Bank vorm Haus, blickt auf einen Teil des leicht verwilderten Clara-Parks hinüber und hört der Klage eines Rentners zu, der behauptet, dass damals, als sie alle so heldenhaft der Corona-Eins-Pandemie trotzten, es noch genug Mitarbeiter im Grünflächenamt gab, die ihr Leben riskierten, um mit Masken und Vollschutzanzügen den Parkrasen kurzzuhalten. Früher, da sei eben doch nicht alles schlecht gewesen, beendet der Alte seine Klage und bestellt im Späti noch ein Köstritzer.
Ich erwachte, rieb mir die Augen, dachte über meinen Traum nach und fragte mich, ob ich mich etwa selbst in der Rolle des Meckerrentners geträumt hätte. Hm, der Traum fiel dann wohl unter die Rubrik Satire, dachte ich und begann zu lachen.
Der geträumte Bürgermeister hatte erklärt, dass die EU sich zu einer angemessenen Besteuerung der Onlinehandelsgiganten durchgerungen hatte und man deren Einnahmen dann auch noch menschlich und vernünftig reinvestierte!
Immerhin, dachte ich schließlich, ein paar Gaukler und Clowns könnten dem Wochenmarkt am Alten Rathaus schon guttun, oder?
„Haltungsnote: Überholen ohne Einzuholen – Eine Kolumne über das Jahr 2048“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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