Triage โ€“ eines der Worte, die im Verlauf der Pandemie Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben. Triage โ€“ darunter versteht man die Festlegung der Behandlungsreihenfolge von schwer erkrankten oder verletzten Menschen, wenn die personellen und materiellen Ressourcen zur Behandlung aller nicht ausreichen.

Triage bezeichnet also das, was wir Menschen Tag fรผr Tag vornehmen: Wir priorisieren stรคndig Zuwendung, Engagement, Geldausgaben โ€“ gerade in der Weihnachtszeit. Wen bedenke ich mit einem Geschenk und wen nicht, wem schreibe ich einen persรถnlichen GruรŸ und wen streiche ich von der Liste, welchem Bettler werfe ich ein Geldstรผck in den Kaffeebecher und an wem gehe ich achtlos vorbei, an welche Organisation รผberweise ich wie viel Spendengelder und an welchen Verein nicht.

Nun ist in Zeiten der Pandemie die Triage zu einem Begriff geworden, der ein ethisches Horrorszenario fรผr ร„rzte wie betroffene Patienten beschreibt: Was geschieht, wenn auf den Intensivstationen der Krankenhรคuser nicht mehr alle einer intensivmedizinischen Behandlung bedรผrftigen Patienten versorgt werden kรถnnen? Nach welchen Kriterien wird dann die Reihenfolge festgelegt und wer entscheidet darรผber?

Am vergangenen Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht verfรผgt, dass es dazu einer gesetzlichen Regelung bedarf. Denn es gelte unbedingt zu verhindern, dass Menschen mit Behinderungen bei einer solchen Entscheidung benachteiligt werden. Kaum war das Urteil verรถffentlicht, meldete sich der Interessenverband der Senior/-innen und verlangte, auch aufgrund des Alters dรผrfe bei einer Triage niemand Nachteile haben.

Nun geht die Debatte munter weiter. Die Freiburger Juraprofessorin Tatjana Hรถrnle hรคlt es fรผr gerechtfertigt, dass bei einer Triage, also der Priorisierung der Behandlungsfolge, auch der Impfstatus eine Rolle spielen solle. SchlieรŸlich handelt es sich nach Hรถrnle bei einem Menschen, der sich nicht hat impfen lassen und schwer an COVID-19 erkrankt, um โ€žeine entscheidungsfรคhige, volljรคhrige Personโ€œ, die โ€žwesentlich oder gar ausschlieรŸlich durch eigenes Verhalten ihre Notlage verursacht hat.โ€œ

Ein solches Kriterium โ€žeigenes Verhaltenโ€œ hat aber der Verband der Intensivmediziner DIVI schon vor dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abgelehnt: โ€žEine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zulรคssig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen und auch nicht aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus.โ€œ

Es gehรถrt nicht viel Phantasie dazu, welche Debatten jetzt auf uns zukommen. Wie soll im Gesundheitswesen in Zukunft mit Rauchern, Alkoholikern, รœbergewichtigen, Extremsportlern, Strafgefangenen umgegangen werden, die alle durch โ€žeigenes Verhaltenโ€œ in eine prekรคre Lebenssituation geraten sind?

Schon will der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) Ungeimpfte an Krankenkosten beteiligen oder ihnen das Krankengeld streichen. Heute sind es die Ungeimpften, bei denen man den Gleichheitsgrundsatz nicht mehr gelten lassen will โ€“ und morgen? Kann das Grundrecht auf Leben abhรคngig gemacht werden vom โ€žeigenen Verhaltenโ€œ?

Keine Frage: Das ist ein gefรคhrlicher, verfassungsrechtlich ungangbarer Weg. Denn das Grundgesetz geht von der Gleichwertigkeit und Schutzwรผrdigkeit eines jeden Leben aus. Die Wรผrde des Menschen umfasst sehr viel mehr als Gesundheitsschutz. Einer โ€žVolksgesundheitโ€œ dรผrfen nicht die Individualrechte geopfert werden. Es wird also hรถchste Zeit, dass wir uns nicht in den Strudel eines vรถllig unnรถtigen und kontraproduktiven Ungeimpftenbashings hineinziehen lassen, in den sehr schnell andere Bevรถlkerungsgruppen mitgerissen werden.

2022 begleitet die Christen in Mitteleuropa als Jahreslosung ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: โ€žWer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.โ€œ (Die Bibel: Johannes 6,37) Nicht abweisen โ€“ das ist eine Handlungsmaxime, die wir dem Leben und Wirken Jesu verdanken. Bei ihm findet jeder Mensch eine offene Tรผre und erfrischende Zuwendung. Herkunft, Geschlecht, Alter, Gebrechlichkeit, Lebensgeschichte spielten keine Rolle.

Allerdings: Der Weg zu ihm liegt in der Mรถglichkeit und Verantwortung eines jeden Menschen. Die Gewissheit aber, dass diejenigen, die zu ihm kommen, angenommen und nicht abgewiesen werden, die ist gegeben. Davon zeugen die vielen Geschichten, in denen Jesus Menschen begegnet ist und mit ihnen das Brot geteilt hat โ€“ auch mit solchen, die von anderen ausgegrenzt, vor die Tรผr gesetzt, verachtet wurden.

An diesem faszinierenden Auftreten Jesu haben sich zu allen Zeiten Menschen innerhalb und auรŸerhalb der Kirchen orientiert. Von diesem Geist Jesu sind Gott sei Dank auch unser Grundgesetz, auch Teile unserer Gesellschaft geprรคgt. In diesem Geist wachsen nach wie vor Kinder und Jugendliche auf und werden so auf ein menschenfreundliches Leben vorbereitet. Aber wir spรผren auch, dass davon nichts selbstverstรคndlich ist. Schon bei der sog. Flรผchtlingskrise wurde deutlich, dass mancher ein Interesse daran hat, den Menschen diesen Geist Jesu auszutreiben.

Das sollten wir nicht fortsetzen, indem wir die Gesellschaft weiter segmentieren. Denn wenn wir Spaltungen รผberwinden, Ausgrenzungen stoppen und Grรคben zuschรผtten wollen, wenn wir weniger Alltags-Triage praktizieren wollen, dann sollten wir uns die Jahreslosung zu Herzen nehmen. Welcher Segen kann von einer Begegnung mit Menschen ausgehen, die wir nicht abweisen!

Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de

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