Seit Montag tagt ja in Glasgow die 26. UN-Klimakonferenz. Die Erwartungen sind gedämpft. So manche Medien waren sich schon am ersten Tag sicher, dass dabei wieder nicht das herauskommen wird, was eigentlich notwendig ist, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Weil einige Staaten scheinbar schon wieder mauern und überhaupt keine Versprechen machen wollen. Aber wieso erhoffen das alle von irgendwelchen regierenden Populisten? Warum fangen wir nicht einfach selbst an?

Eine nicht ganz unwichtige Frage, denn auch Deutschland hat zwar in Paris 2015 die damals beschlossenen Klimaziele unterschrieben. Was das aber tatsächlich bedeutet, wenn wir das alle ernst nehmen wollten, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren getreuen Wähler/-innen lieber nicht erzählt.Denn dazu braucht man Visionen, muss man im Kopf umschalten und alte Werte durch neue ersetzen, ein veraltetes, nicht mehr tragbares Normal gegen ein künftiges neues Normal ersetzen.

Das ist nicht passiert. Das wissen wir alle.

Veränderungen beginnen nicht bei Klimakonferenzen, sondern im Kopf.

Am heutigen Montag titelte der „Spiegel“ richtig kraftmeierisch: „Der Moment, als die Menschheit falsch abbog“.

Was natürlich mal wieder falsch ist. Sie ist nicht falsch abgebogen, sondern mit Vollgas weiter geradeaus gefahren. Sie hätte aber „die Kurve kriegen müssen“. Es ist auch dieser „Die-Menschheit“-Gestus, der nicht stimmt. Die meisten Völker auf dieser Erde können nichts für den Schlamassel, den gerade die Reichen und Wohlhabenden da angerichtet haben mit einem Wachstums-Denken, das seine eigene Irrationalität nicht mehr sieht.

Mit aller Macht

Aber der Titel stimmt auch aus einem anderen Grund nicht, weil er die Machtverhältnisse hinter dieser Entwicklung verklärt und verkleistert. Ganz so, als hätten „alle Menschen“ denselben Einfluss auf das, was politisch passiert. Haben sie aber nicht. Nicht mal in Deutschland, in dem es Wahl für Wahl immer wieder Mehrheiten für einen Bequemlichkeits-Kurs nach dem Motto „Weiter so“ gibt. Der sitzt auch aktuell wieder am Verhandlungstisch der Ampelkoalition.

Mich würde es gar nicht wundern, wenn am Ende ein müder Kompromiss auf dem Tisch liegt, bei dem man endgültig weiß, dass sich auch in den nächsten vier Jahren nichts ändern wird.

Und das liegt nicht daran, dass es nicht ginge. Das beweist schon seit einiger Zeit die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die es vielleicht nicht schaffen wird, im französischen Präsidentschaftswahlkampf eine entscheidende Rolle zu spielen, die aber längst Paris auf eine Weise umkrempelt und klimafreundlicher macht, bei der in Deutschland die Autolobby fluchend die Wände hochgehen würde.

Weshalb sich derzeit auch kein deutscher Bürgermeister traut, derart konsequent Platz für umweltfreundliche Verkehrsarten zu schaffen. Auch nicht der OBM von Leipzig. Obwohl das Pariser Beispiel zeigt, dass Autofahrer in dieser Frage nicht wirklich die Mehrheit haben. Erst recht nicht, wenn sie in so einer vom Autoverkehr überlasteten Großstadt wohnen und merken, wie gründlich sich Straßen verändern, wenn man die Blechkolonnen daraus verbannt.

Auch darüber schrieb der „Spiegel“.

Das Beispiel zeigt eigentlich genauso wie die Beispiele Amsterdam, Madrid und Kopenhagen, dass die entscheidenden Weichen im Kopf gestellt werden müssen. Und dass es positive Beispiele braucht. Beispiele, die für sich selbst sprechen – saubere Luft, fehlender Lärm, Platz für Fußgänger, Kinder und Gebrechliche, Aufenthaltsqualität, weniger Stress und Gefahr. Die Menschen selbst ändern sich, werden weniger aggressiv. Von der Atmosphäre in den Straßencafés, die ja nicht nur die Pariser lieben, ganz zu schweigen.

Leipzigs vermasselte Chance

Leipzig hat eine einmalige Gelegenheit, bei so etwas mal Vorreiter zu sein, 1993 verpasst, als ein frisch in Autos verliebter Stadtrat nicht den Mumm hatte, eine autofreie Innenstadt zu beschließen. Zu einem Zeitpunkt, als sämtliche Innenstadthändler noch die Erfahrung hatten, dass ihre Kund/-innen eben nicht mit dem Auto kommen, sondern mit der Bimmel, dem Fahrrad oder zu Fuß.

Aber beschlossen hat man eine „autoarme Innenstadt“, bei der sich selbst Schüler/-innen an den Kopf fassen und fragen: Was soll das? Aber die Klasse 7 B des Immanuel-Kant-Gymnasiums scheiterte mit ihrer Petition. Der Petitionsausschuss hat den Verwaltungsstandpunkt übernommen. Und so wird dann in der Regel auch in der Ratsversammlung abgestimmt.

Das einzige, was die Verwaltung zugesteht, ist: „Im Rahmen der Vorlage ‚Überarbeitung Andienungskonzept Innenstadt‘ wird festgelegt, durch welche Maßnahmen die Leipziger Innenstadt noch autoärmer werden kann.“

Autoärmer. Was für ein Wattepflaster für den fehlenden Mut, die Innenstadt einfach mal zur Vorzeigemeile zu machen. Denn anders als es die Verwaltung behauptet, ist der Lieferverkehr nicht das Problem. Der lässt sich auch in einer Innenstadt gut organisieren, in der das private Parken auf sämtlichen Straßen verboten wird. Natürlich ist das möglich.

Das einzige Problem haben Leipzigs Planer selbst geschaffen: indem sie all die riesigen Hoch- und Tiefgaragen in der City genehmigt haben, die ihren Bedarf selbst erzeugen. Wobei: So ein frecher Gedanke sagt mir, dass man etliche davon auch umnutzen könnte. Die einzigen, die Druck haben, diese teuren Bauten in Betrieb zu halten, sind die Besitzer dieser Bauteile aus dem Fossilzeitalter.

Umnutzen könnte man sie zu richtig komfortablen Fahrradgaragen. Nur so als Idee.

Aber darum geht es erst einmal nicht.

Erstickt an Blech und Bequemlichkeit

Denn Anne Hidalgo zeigt, dass man sich Veränderungen erst einmal vorstellen muss, um sie auch als umsetzbar denken zu können. Leipzig ist da sehr typisch: Der Gegenprotest setzt schon ein, wenn einer auch nur wagt, eine kleine Veränderung für denkbar zu halten.

Und mit diesen Denkvorschlägen für ein anderes Paris ging ja Anne Hidalgo auch in den Wahlkampf. Und ihre Wähler/-innen unterstützen sie, hielten so gravierende Veränderungen nicht nur für denkbar, sondern auch für eine positive Veränderung in einer Stadt, die am Blech zu ersticken drohte.

Der Großteil der Bevölkerung ist längst weiter, als es zaghafte und visionslose Politiker/-innen gern behaupten. Auch bei der Energiewende. 86 Prozent der Deutschen halten den Ausbau der Erneuerbaren Energie für wichtig bis sehr wichtig, ergab eine Umfrage im Januar 2021.

Aber dennoch passiert nichts, hat augenscheinlich eine lautstarke Minderheit so viel Macht, den Ausbau zu bremsen und zu verhindern, dass Sachsen zum Beispiel im Augenblick sogar einen Rückbau der Windkraftanlagen erlebt. Mal sind es diverse Bürgerinitiativen, die sich lautstark gegen Windparks wehren, mal sind es die Bürgermeister und Gemeinderäte selbst, die schon aus Scheu vor den oft krawalligen Protesten die Ausweisung neuer Windkraftstandorte verhindern.

Ein Brandbrief an den MP

Am 8. November will die Vereinigung zur Förderung der Nutzung Erneuerbarer Energien (VEE Sachsen) einen Brandbrief veröffentlichen, der das Thema auf die politische Agenda bringen soll: „In Sachsen zeichnet sich eine zunehmende Abwehrhaltung der Kommunen gegen Windenergieprojekte ab – der Ausbau der Windenergie läuft in Sachsen tatsächlich rückwärts.

Die Mitglieder der Vereinigung zur Nutzung Erneuerbaren Energien in Sachsen (VEE Sachsen e. V.) haben deswegen einen öffentlichen Brandbrief an den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer verfasst, der am kommenden Montag, 8. November, versandt wird“, teilt die VEE mit. „Er enthält neben Informationen zur Blockadehaltung auch konkrete Forderungen an die Landesregierung.“

Denn natürlich hat Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erst einmal recht damit, wenn er befürchtet, dass das Energieland Sachsen ziemlich nackt dasteht, wenn die Kohlemeiler vor 2030 alle vom Netz gehen. Er hat ja nicht vorgesorgt. Dann wird Sachsen nämlich zum Stromimportland. Davor hat er Angst. Aber statt die Gelegenheit beim Schopf zu packen, den Windkraftausbau in Sachsen wirklich zu forcieren, jammert er um die Kohle.

Dabei weiß er, dass er die Erneuerbaren ausbauen muss. Und dass es dazu allen Rückhalt der Regierung braucht. Denn all die Bürgermeister, die da jetzt mauern, können sich auf eine Regierung berufen, die wie panisch an der Kohle festhält.

Irgendwie fehlt da einer auf sichtbarer Höhe, der den Sachsen ein Bild einer anderen Energiezukunft gibt. Und sie einlädt, mitzumachen.

Hannemann, geh du mal voran…

Und dasselbe galt bislang eben auch für Deutschland, das seit 16 Jahren immer so tat, als wären die anderen Schuld daran, dass es nicht vorangeht – mal die Russen, mal die Chinesen, mal die Amerikaner. Und schwups landeten die Hände im Schoß, man lächelte freundlich und sah sich nicht die Bohne animiert, einfach mal zu zeigen, dass wir das wirklich schaffen können. Wenn wir wollen und uns nicht ständig einreden, dass es nicht geht oder dass die anderen …

Gottchen, dieses Geplärre hab ich schon im Kindergarten gehasst, diese ganzen jammernden Heulsusen, die immer auf andere gezeigt haben: „Die da …!“

Eigentlich ist egal, ob die anderen jetzt mal mehr versprechen. Weil es darum schon lange nicht mehr geht. Anne Hidalgo zeigt, dass man selbst so eine Stadt wie Paris klimafreundlich umbauen kann. Und dass die Bewohner dieser Stadt das auch zu schätzen wissen. Und natürlich kostet es Geld, das dann erst einmal nicht den Autobahnen zur Verfügung steht. Aber eigentlich geht es genau darum.

Denn das Geld, das dem ÖPNV seit 50 Jahren fehlt, wurde die ganze Zeit in den Ausbau der Autoinfrastruktur gesteckt. Und die steckt uns allen in den Köpfen. Wir können uns kaum noch vorstellen, wie eine Welt aussehen könnte, in der nicht ständig neue Autobahnen und Bundesstraßen gebaut werden.

In der dieses Gejammer aufhört, dass irgendwelche Leute, die sich persönlich nicht kennen, ständig im Stau stehen. Unfähig, sich selbst als ganz simple Ursache des Staus zu begreifen, als Bestandteil einer Wolke kleiner motorisierter Egoisten, die nicht merken, dass es ihre schiere Masse ist, die ein an sich durchaus spektakuläres Fortbewegungsmittel zum Verstopfungs- und Klimaproblem macht.

Kann man weiter so machen. Das bestärkt die Egoismen in unserem vom Wohlstand gebeutelten Land. Aber eigentlich braucht es mehr Bürgermeisterinnen, die den Mut haben, eine andere Stadt für denkbar zu halten.

Haben wir noch nicht. Weiß ich.

Aber man könnte ja anfangen, sich eine auszudenken. Zeit dafür wäre es.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“.

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