Erschöpft kommt der Coronakrisenstab mit einer halben Stunde Verspätung aus dem Beratungszimmer im Neuen Rathaus. Die angeregten Gespräche verstummen allmählich, die Teilnehmer/-innen finden sich auf ihren Plätzen ein. Flyer auf den Stühlen verkünden das Thema der Podiumsdiskussion: „Antisemitismus im Netz begegnen“.
Auf Einladung des European Leadership Network (ELNET) diskutierten am Abend des 1. November Oberbürgermeister Burkhard Jung, Verlegerin Nora Pester, Vorstandsmitglied der Deutsch-israelischen Gesellschaft Leipzig Nicole Weise und Charlotte Henke von der Grünen Jugend. Ministerpräsident Michael Kretschmer konnte nicht teilnehmen, da er sich derzeit in COVID-19-Quarantäne befindet. „Ich hätte nicht gedacht, dass der Kampf gegen Antisemitismus für mich noch so bedeutsam wird“, eröffnet Hans Thomas Kessler, ELNET-Vorstand, seine Rede. Seine Organisation setze sich für eine starke Partnerschaft zwischen europäischen Ländern und dem Staat Israel ein. Dabei liegt die Expertise neben Antisemitismus in den Bereichen Sicherheitspolitik und Innovation. Vor allem die diskriminierenden „Querdenken“-Rhetoriken hätten die letzteren beiden Gebiete in den Schatten gestellt.
Als Oberbürgermeister Burkhard Jung ans Mikrofon tritt, würdigt er zunächst die mehr als 700 Jahre jüdischen Lebens in Leipzig und dass Leute nach dem Holocaust wiedergekehrt und geblieben seien – ein großer Vertrauensbeweis, so Jung.
Die Zusammenarbeit mit jüdischen Akteur/-innen sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten enorm ausgebaut worden, doch „all diese tollen Entwicklungen täuschen nicht darüber hinweg, dass der Ton rauer geworden ist.“ Vor allem in den sozialen Netzwerken sei Hassrede alltäglich. Facebook, Twitter und Co. seien ein „fast rechtsfreier Raum“.
Hate sells
Laut ELNET sieht sich Jungs These auch in Studien von 2020 bestätigt. Eine EU-weite Umfrage ergab, dass 8 von 10 Menschen 2020 Antisemitismus im Netz mitbekommen haben. 9 von 10 gaben sogar an, dass sie das Gefühl haben, dass das Problem größer wird. Eine deutschlandweite Studie konstatierte für 2020 ein Drittel mehr gemeldete Fälle im Zusammenhang mit Antisemitismus als im Vorjahr. Zunehmend gerieten nicht nur Juden und Jüdinnen ins Kreuzfeuer, sondern auch die gesamte Legitimität des Staates Israel.
Wie in der Vergangenheit nutzen rechtsnationalistische Bewegungen auch in der Coronakrise gesellschaftliche Vorgänge, um bestimmte Themen zu setzen. Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Pandemie werden auch jetzt für antisemitische Hetze verwendet. Und können über die sozialen Netzwerke noch schneller und in Form von TikToks oder Memes subtiler verbreitet werden.
Und Facebook, Twitter und Co. geben zwar vor, sich aktiv gegen Diskriminierung zu stellen, aber wie die Verlegerin Nora Pester sagt: „Hate sells“. „Wir können uns also nicht auf Behörden, Justiz und Seitenbetreiber verlassen“, so Pester weiter. Die Nutzer/-innen seien selbst verantwortlich. Neben Solidarisierung mit Betroffenen müsse vor allem Bildung im Bereich der Medienkompetenz vorangetrieben werden.
Nicole Weise fügt hinzu, dass auch und vor allem im ländlichen Raum bildungspolitisch viel getan werden müsse. Finanzielle Mittel zur Antisemitismus-Prävention müssen dringend zur Verfügung gestellt werden.
„Richtig verstandener Antisemitismus“ im Fall Ofarim
Gegen Ende spricht der Moderator Carsten Ovens (ELNET) noch den Elefanten im Raum an: der Vorfall um Gil Ofarim und das „Westin“-Hotel. Zunächst richtet er seine Frage an Burkhard Jung, der sich bisher nicht zu dem Vorfall geäußert hatte.
„Und ich habe mich bewusst nicht geäußert“, so der OBM. Zunächst sei er von der Unschuldsvermutung ausgegangen und habe genau wie Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, den „Westin“-Manager kontaktiert.
Doch diesen bedächtigen Weg seien die wenigsten gegangen, so Jung. Vom Zentralrat der Juden bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten Martin Dulig habe man vorschnell geurteilt und eine riesige Welle ausgelöst. Der beschuldigte Mitarbeiter habe laut Jungs Informationen Morddrohungen bekommen und musste aus Leipzig wegziehen. So entstehe aus richtiger und wichtiger Solidarität wiederum eine nicht entschuldbare Verurteilung und Verfolgung.
Nicole Weise reagiert ein wenig entsetzt: „Trotzdem war es doch wichtig, Flagge zu zeigen!“ Das bejaht Jung; merkt aber auch an, dass man sich generell gegen Antisemitismus stellen sollte, ohne direkt einen Beschuldigten zu diffamieren: „Das ist für mich richtig verstandener Antisemitismus.“ Denn falls sich herausstellen sollte, dass Ofarims Aussagen nicht stimmten, würde das rechten Bewegungen Feuer geben und für die Juden und Jüdinnen in Deutschland fatal sein, schließt Jung.
In dem Projekt „Words Matter“ diskutieren junge Menschen über die Frage, wie man Antisemitismus im Netz begegnen kann. Auf den abschließenden Podiumsdiskussionen mit lokalen Vertreter/-innen werden die Ergebnisse zunächst vorgestellt und dann diskutiert.
Gefördert wird das Projekt von #2021JLID-Jüdisches Leben in Deutschland e. V. Die letzte der acht Stationen ist am 18. November München. Danach werden die Ergebnisse in einer Handlungsempfehlung zusammengefasst und an die zuständigen Ministerien bei Bund und Ländern weitergeleitet.
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