„Versuche es. Scheitere. Scheitere noch einmal. Scheitere besser“, so ähnlich könnte man einen berühmten Satz von Samuel Beckett übersetzen. Aber Beckett ist schon lange tot. Die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen pfeifen es ja sämtliche Lifecoaches aus den Podcast, YouTube, Twitch und Facebookdrüsen: Scheitern ist keine Schande.
Im Gegenteil, es ist nützlich zur Charakterbildung und überhaupt und sowieso notwendig, um eines Tages schließlich doch mal Erfolg zu haben. Meine sachsen-anhaltinische Großmutter hätte dies in dem Spruch „Aus Fehlern lernt man“ zusammengefasst. (Oma hat zu ihrem Glück übrigens niemals erfahren müssen, dass ein Beruf namens Lifecoach überhaupt existiert.)Aber auch scheitern findet auf verschiedenen Niveaus statt. Eine Matheklausur vergeigt zu haben ist etwas anderes, als eine Firma gegen die Wand zu setzen oder sich beim Vertuschen einer Straftat ertappen zu lassen, wie es EX-VW Vorstand Winterkorn aktuell offenbar geschieht.
Und noch einmal ein ganz anderes Scheiternniveau ist, die Wahl zum Bundeskanzler verloren zu haben.
Ich mache hier gar keinen Hehl daraus, dass ich mir wünsche, dass es Armin Laschet träfe. Doch ich schreibe diesen Text in Italien, vier Tage vor der Wahl und kann daher nur hoffen, dass er verliert. Obwohl ich gleichzeitig befürchte, dass meine Hoffnung enttäuscht werden wird.
Laschet als Katholik wird womöglich in letzter Zeit der durchaus bekannte Bibelspruch von den Letzten, die eines Tages dann doch die Ersten sein werden, durch den Kopf gegangen sein.
Obwohl die Union eher auf dem zweiten Platz landen wird, der nicht wirklich mit dem letzten Rang zu vergleichen wäre, ist klar, dass der Verlust der Führungsposition innerhalb der deutschen Volks- (und Volkstums und Klientel) Parteien ausgerechnet für die Union eine Zerreißprobe darstellen muss, die die Partei in eine tiefe Sinnkrise stürzen muss.
Die Frage ist, was am Ende des dann anstehenden Neufindungsprozesses der Konservativen herauskommen wird. Ich wette darauf, dass es eher nach rechts als weiter in die pinke ansatzsozialdemokratische Mitte gehen wird. Alice Weidel und Gauland bekommen dann eine für sie existenzbedrohliche Konkurrenz. Die sich zudem dadurch auszeichnet, das Original jener Kopie darzustellen, die die AfD in immer heftigeren Provokationen zu imitieren versuchte.
John Keane hat in seiner Biographie über den großartigen Vaclav Havel vermutet, dass der Tod für einen abgewählten Politiker vielleicht den besten Karriereschritt darstelle, weil er jegliche Versuchung für ein Comeback endgültig ausschließe.
Politik ist eine unbarmherzige Maschine, die mit den Träumen, der Mühe, den Enttäuschungen und Hoffnungen von Frauen und Männer gefüttert wird, die sich – aus welchen Motiven auch immer – dem Glanz der Macht ergeben wollen. Was jene Maschine letztlich allzu oft als Exkrement ausstößt, sind ausgelebte Menschenhüllen, die sich mehrheitlich als Frühstücksdirektor/-innen, Lobbyist/-innen oder EU-Parlamentsabstimmbody wiederfinden.
Anderen gesteht man immerhin die schillernde Ehre zu, sich als Elder Statesman bzw. -women in irgendeinem diplomatischen Verhandlungsteam für die Eindämmung von Nuklearwaffen oder gegen den Welthunger im niedriger stehenden Medienlicht sonnen zu dürfen. Ich glaube, es war Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer, der einst davon sprach, dass Politik eine Droge sei, von der man niemals völlig loskommen könne.
Ich erinnere mich an meinen eigenen kalten Entzug vom Kokain, an den Schmerz, den Schüttelfrost und die halluzinationsähnliche Gier, die sich wie Fieber anfühlte.
So, stelle ich mir vor, fühlt es sich an, wenn die Mikrophone plötzlich auf andere gerichtet werden und man allmählich begreift, dass man statt streng vertraulicher Akten und Memos bloß noch Newsletter bekommt.
Ganz gleich, wer sich als der oder die Verlierer in der Bundestagswahl 2021 wiederfinden wird, hat unser Mitgefühl verdient. Nicht für die Motive, die jenen Menschen dazu brachte zu behaupten: „Ich habe das Zeug dazu, diesen Kanzlerjob machen zu können“, auch nicht für die Hybris, die dazu auch immer gehört, und nicht einmal für diese ganz spezielle Art von Masochismus, den ein solcher Schritt ebenso zwingend voraussetzt. Sondern für den Mut vor den Augen der Welt, das Scheitern in diesem öffentlichen Wettkampf in Kauf nehmen zu können.
Dass die Verlierer Mitgefühl verdienen, erfordert die Menschlichkeit. Dass man Politikern und deren Parteiprogrammen als Wähler besser Aufmerksamkeit widmet, um eine abgewogene Wahlentscheidung treffen zu können, ist eine Binsenweisheit.
Was Politiker von den Wählern nicht erwarten können, aber zuweilen eben dennoch einfordern, ist Loyalität, die über die Entscheidung in der Wahlurne hinausgeht. Besonders die ehemaligen großen Volksparteien Union und SPD scheinen sich gerade auch in dieser Wahl verwundert die Augen darüber zu reiben, dass nicht jede ihrer bisher so verlässlichen Klientel ihnen die Treue hielt.
Darauf, dass sich Situationen ändern und man auf einige der Herausforderungen der Zukunft zumindest bei der Union Beschwichtigungen als Lösungen zu verkaufen versuchte, kam Laschets Wahlkampfteam reichlich spät, wahrscheinlich zu spät.Aber die Union ist damit auch nicht allein. Der FDP Generalsekretär behauptete ja auch, dass die Grünen Jugendliche als „innerfamiliäre Drückerkolonne“ einsetzen würden, nur weil Kinder und Jugendliche nun einmal die größere Lebenslast des Klimawandels zu tragen haben werden.
Man kann von dieser Aussage halten, was man will. Aber es schwingt daraus eine gewisse Empörung gegenüber den Kindern und Jugendlichen auch in traditionell FDP wählenden Familien. Da fürchtete man in der FDP offenbar ebenso wie in der Union die Erosion alter Loyalitäten. Dass auch die Grünen bloß sehr bedingt den Mut hatten, die radikalen Maßnahmen zu vertreten, wie sie die Weltklimalage erfordern – (nahezu) geschenkt.
In den eher konservativ gefärbten Kolumnen wurde ja noch kurz vor Wahlkampfende das Schreckgespenst einer Regierung aus Grünen und SPD unter Duldung der Linken aufgebaut. Eine Konstellation, die für jene Damen und Herrn nun wirklich ganz nah am (gähnend) oft beschworenen Untergang des Abendlandes entlangschrammt.
Es existiert sicher kein Trost angesichts einer Niederlage in einem Wettbewerb, in dem es um so hohe Ämter geht wie die Bundestagswahl. Aber es existiert nun mal auch kein Planet B, auf den wir Wähler uns zurückziehen könnten, sollte diese Bundestagswahl dann doch wieder nur zum selben Kleinklein und „Ja, aber…!“-Nichthandeln führen wie die letzten beiden Wahlgänge.
„There’s nothing left to fear ’cause if you want to hurt me you do it really well my dear“, singt Annie Lennox über die Liebe. Das gilt aber genauso für die Politik.
„And the rain sounds like a round of applause“, singt Tom Waits in seinem Hit „Time“.
„Haltungsnote: Leipziger (Wahl)Allerlei made in Italy – Eine Kolumne über die Union kurz vor der Wahl“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ), die David Gray bereits vor der Bundestagswahl über die Union geschrieben hatte – und seine „Hoffnung“, an die er selbst nicht geglaubt hat, auf eine Niederlage von Armin Laschet sollte sich erfüllen. Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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