Friedbert Bรถhmichen, 1944 in Leipzig geboren, floh 1974 mit seiner Familie รผber die Mauer in den Westen. Kurz nach dem Fall der Mauer kehrte er in seine Heimatstadt zurรผck. In der LZ erzรคhlt der 77-Jรคhrige, warum er der DDR mit 30 Jahren den Rรผcken kehrte und wie ihm dies gelang.
Spazieren gehen am Bodensee
โIch bin 1974 mit meiner Familie โ meiner Frau und unserem damals fรผnfjรคhrigen Sohn โ aus der DDR geflohen. Ich war zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt und habe schlichtweg keine Chance gesehen, irgendwo in meiner Karriere noch etwas zu bewegen. Das war in der DDR eben so: Mit 23 Jahren hatte man fรผnf Jahre studiert und sein Diplom in der Tasche.
Und wenn es dann nicht weiterging, dann merkte man, dass man noch wahnsinnig jung war, aber Wege verschlossen blieben, wenn man nicht in dieser politischen Richtung mitmachte. Ich wusste nach meinem Abschluss als Diplom-Ingenieur-รkonom, dass ich meinen Beruf hรถchstwahrscheinlich mein Leben lang ausfรผhren wรผrde. Ich war vom Sozialismus nicht รผberzeugt. Man hatte schon mein ganzes Leben lang versucht, mir das einzutrichtern. Das ist eigentlich der Grund gewesen, die DDR zu verlassen. Hรคtte ich damals das vorgefunden, was ich heute hier in Leipzig vorfinde, wรคre ich niemals geflohen. Wir alle beide, meine Frau und ich, haben unsere Heimat geliebt. Aber wir waren noch jung, wir hatten keine Angstgefรผhle. Wenn man noch gerade 30 Jahre alt ist, sagt man sich โWarum sollst ich mein ganzes Leben lang nie die Alpen sehen oder auch mal am Bodensee spazieren gehen und nur immer ins Erzgebirge oder nach Thรผringen fahren?โ
Ohne unsere Kontakte wรคre uns die Flucht niemals gelungen. Schon, dass wir das Geld dafรผr zusammen bekommen haben โ das funktionierte eigentlich auch nur รผber gute Kontakte. Wir benรถtigten damals 30.000 D-Mark, 10.000 pro Person. Es musste ja auch das Vertrauen herrschen, dass wir diese Summe wรผrden zurรผckzahlen kรถnnen. Am Ende haben wir das innerhalb eines Jahres geschafft.
โAm Montag wollte ich wieder da seinโ
Die Flucht begann am 8. November 1974 hier in Leipzig. Meine Frau und ich hatten unseren Weggang in Absprache mit ihrem Bruder etwa ein halbes Jahr lang vorbereitet. Er kam immer zur Messe nach Leipzig und hat hier seine Eltern besucht. Er hatte schon eine Flucht vorbereitet รผber Westberlin mit amerikanischem Militรคrpersonal.
Wir hรคtten zu dritt nach Westberlin transportiert werden sollen, da die amerikanischen Wagen normalerweise nicht kontrolliert wurden. Aber eine Woche, bevor wir diesen Weg รผber Berlin nehmen sollten, war die Fluchthilfe der Amerikaner entdeckt worden. Es gab ein Riesentheater und der Fluchtweg war fรผr uns abgeschnitten.
Relativ schnell fanden wir eine Lรถsung mithilfe von drei jungen Leuten aus Sรผddeutschland. Einer von ihnen hatte eine Druckerei. Der andere war Rechtsanwalt, er war maรgeblich mitbeteiligt an unserer Flucht. Die drei haben uns unsere Fluchtpapiere besorgt โ einen westdeutschen Familienpass mit den dazugehรถrigen Passfotos von mir und meiner Frau. Hergestellt wurden die Dokumente mit Original-Stempelmaschinen, natรผrlich alles geklaut.
Wir hatten uns 14 Tage vor unserer Flucht schon in Prag mit unseren Fluchthelfern getroffen, die Fotos gemacht und den Familienpass unterschrieben. Der war wichtig wegen unseres fรผnfjรคhrigen Sohnes. Und fรผr die Fรคlscher war es natรผrlich viel einfacher, uns drei mit nur einem Pass zu schleusen. Die Schleuser haben auch die Flugtickets besorgt.
Ich meine, der 8. November war ein Freitag. Ich hatte mir im Bรผro freigenommen und wollte am Montag wieder da sein, so hatte ich es hier im Rechenzentrum angekรผndigt. Wir sind morgens mit dem Zug nach Dresden gefahren. Dort haben wir unserem Sohn gesagt, dass wir noch nach Prag fahren wรผrden, um uns die Stadt anzuschauen. Ich sagte, wir wรผrden uns fรผr zwei Tage in ein Hotel einmieten. Das hatte ich natรผrlich schon bestellt, das Hotel. 14 Tage vorher, als ich die Pรคsse unterschrieben hatte.
Wir sind also nach Prag gefahren, alles hat wunderbar geklappt. Ich hatte in den 14 Tagen, bevor wir geflogen sind, auch ein Flugticket gekauft fรผr uns drei von Prag nach Ostberlin, nach Schรถnefeld. Wir sind einen Tag in Prag geblieben und waren natรผrlich aufgeregt in der ganzen Zeit und konnten kaum etwas essen.
Zwischendurch habe ich in einer Mauerritze an irgendeinem Bahnhof in der Nรคhe unseres Hotels unser Geld, das wir noch aus der DDR hatten, unseren Reisepass und noch ein paar DDR-Dokumente versteckt โ fรผr den Fall, dass die Flucht misslingen wรผrde. Ich war nach vielen Jahren nochmal dort, die Mauerritze gab es noch, aber unsere Sachen waren weg.
Ein Husten auf der Herrentoilette
Unser Sohn hat sich auch nicht so wohlgefรผhlt mit uns, er hat uns die Anspannung angemerkt. Am Samstagmorgen sind wir mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Prag hatte nur einen Flughafen โ das besondere ist, dass dort die Abfluggates und die Anfluggates in einer Halle waren โ so, dass sich das ankommende mit dem abgehenden Publikum mischen kann. Ich habe mich und meine Familie nach Berlin-Ost eingecheckt. Mit meinem Personalausweis der DDR war das kein Problem.
Nun waren wir in der Transit-Halle. Der Flug nach Berlin wurde aufgerufen, wir aber sind nicht mitgeflogen. Mehrmals wurden wir ausgerufen: โFamilie Bรถhmichen mรถchte zum Abflug kommenโ. Prag war ein internationaler Flughafen, dort starteten und landeten Flugzeuge in kurzen Abstรคnden. Wir warteten in der Halle auf ein ankommendes Flugzeug aus Zรผrich. Von dort kam einer unserer Fluchthelfer, der unsere Papiere hatte.
Der Flug kam verspรคtet und ich hatte schon Angst, dass er รผberhaupt nicht wรผrde landen kรถnnen, weil es so neblig war. Die Verabredung war, dass wir uns auf der Herrentoilette treffen wรผrden. Es gab nur eine, dafรผr aber ungefรคhr zwanzig Kabinen. Zuvor saร ich an der Bar und habe geraucht. Schon beim Anzรผnden der Zigarette habe ich gedacht โDas sieht doch jeder, dass du abhauen willst.โ
Der Typ setzte sich neben mich. So wusste ich, dass er angekommen war. Er ging auf die Toilette und ich nach ihm. Wir hatten ausgemacht, dass er in seiner Kabine husten und ich in die Nachbarkabine gehen wรผrde, wenn die frei wรคre. Ich folgte ihm relativ schnell. Er hat auch gehustet. Und ich habe gehustet. Und dann habe ich meine Papiere und alles, was ich noch von der DDR hatte, zu ihm rรผbergeschoben. Er hat mir im Gegenzug eine Brieftasche mit Geld und dem Familienpass rรผbergeschoben. Ich habe bei der Erinnerung mehr Angst, als ich damals hatte.
In der Brieftasche โ eine wunderschรถne Lederbrieftasche, die ich heute noch besitze โ waren 2000 Mark Westgeld in kleinen Scheinen drin; zwei Fรผnfhunderter und sonst Zwanziger, kein Hartgeld. Vor allem waren in der Brieftasche auch die Gepรคckgutscheine drin. Ich ging aus der Toilette hinaus zum Gepรคckband. Ich wusste, wie die Koffer aussahen: Das war ein Set, eine groรe und eine kleine Reisetasche und alles in taubenblau.
Ich habe die Gepรคcknummern verglichen und alles vom Band genommen. Da waren wirklich Sachen drin, die auf unsere Grรถรen zugeschnitten waren, ich habe extra nachgeschaut, bevor wir das Gepรคck spรคter wieder abgeben mussten, weil es nochmals benutzt wurde. Auch den Pass mussten wir wieder abgeben. Der war mit Nieten so gefertigt, dass man ihn wiederverwenden konnte.
Noch am Samstag haben wir uns wieder eingecheckt. Mit dem falschen Pass waren wir sozusagen in Prag wieder eingereist und haben noch eine Nacht als Westdeutsche dort รผbernachtet โ aber aus Vorsicht in einem anderen Hotel. Am Sonntag sind wir schlieรlich nach Zรผrich ausgereist. Als ich dort auf dem Flughafen mein Gepรคck geholt habe, da habe ich die Trรคnen vor Freude nicht mehr halten kรถnnen.
โIch wรคre nie weggegangenโ
Mein Vater hat drei Jahre lang nicht mir gesprochen, nachdem ich abgehauen war. Er hatte deswegen seine Stelle verloren. Vorher war er Geheimnistrรคger gewesen, danach nicht mehr. Zwar bekam er noch das gleiche Gehalt, aber die Stelle hatte er nicht mehr inne. Mit 65 Jahren konnte er mich zum ersten Mal besuchen.
Da war dann das Glรผck auf einmal groร. Die drei Jahre davor hat nur meine Mutter den Kontakt gehalten. Ich habe ihm natรผrlich zum Geburtstag gratuliert, aber am Telefon war immer nur meine Mutter. Und mit meinem Bruder habe ich mich immer in Ungarn getroffen. Unsere Telefonate sind alle abgehรถrt worden. Es wurden sogar Telefonate mitgeschnitten, die ich im Westen gefรผhrt habe, die eigentlich nichts mit dem Osten zu tun hatten.
Ich wรคre nie weggegangen. Nie. Deswegen bin ich auch 1989 im November schon wieder nach Leipzig gefahren. Mein Vater hatte fรผr mich eine Einreisegenehmigung bekommen. Die war mir vorher immer verwehrt worden, weil ich noch immer per Haftbefehl gesucht wurde. Wenn ich das gewusst hรคtte, dass der โ89 noch galt, wรคre ich natรผrlich nicht gekommen, das habe ich erst spรคter in meiner Akte erfahren. Und so bin ich noch in der Montagsdemonstration ganz um den Ring mitmarschiert.โ
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der โCoronakriseโ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank dafรผr.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher