Es ist Montag, der 27. August 2018, in Chemnitz. Am Karl-Marx-Monument haben sich tausende Menschen versammelt. Einige heben ihre Arme zum Hitlergruß, andere schreien betrunken: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ Die erschreckenden Bilder werden in Zeitungen rund um die Welt abgedruckt.
Was zunächst wie eine Dystopie klingt, fand im Spätsommer 2018 tatsächlich statt, als die rechte Mobilisierung in Sachsen einen ihrer Höhepunkte erreichte. Zu der eigentlich als „Trauermarsch“ ausgeschriebenen Demonstration hatte die Bürgerbewegung Pro Chemnitz aufgerufen, nachdem am vorhergehenden Wochenende Daniel H., ein Chemnitzer mit kubanischen Wurzeln, niedergestochen wurde.
Der Anlass für die Unruhen: das Täterprofil. Zwei Personen mit Migrationshintergrund sitzen in Untersuchungshaft. Ein gefundenes Fressen für die rechtsextreme Szene. Mitglieder der Neonazipartei „Der dritte Weg“ und gewaltbereite Hooligans können wieder Hand in Hand laufen. „Auf der gegenüberliegenden Seite des Karl-Marx-Monumentes gibt es einen Balkon, auf dem wir standen und beobachteten. Es war eine unheimlich bedrohliche Atmosphäre. Wir fragten uns anfangs, wo überhaupt die Polizei ist. Journalist/-innen wurden an uns vorbeigejagt, ständig gab es Angriffe“, berichtet Steven Seiffert vom Kulturbüro Sachsen.
Er schildert seine Eindrücke vom 27. August 2018 auf einer Pressekonferenz mit dem Titel „Rechte Strukturen und Dynamiken in Chemnitz und Sachsen“. Auf der Veranstaltung wurde nun, drei Jahre nach den Ausschreitungen, ein Strategiepapier vorstellt, das die Prozesse untersucht. Wie konnte es damals so weit kommen? Wie sieht die Situation derzeit in Chemnitz aus? Was könnte uns in Zukunft erwarten und wie kann man dagegen vorgehen?
Diesen Fragen sind der Soziologe und Gesellschaftsforscher Johannes Kiess und der Journalist Johannes Grunert am Else-Frenkel-Brunswik-Institut (EFBI) in Leipzig nachgegangen. Das an der Universität Leipzig angesiedelte EFBI erforscht und dokumentiert demokratiefeindliche Einstellungen, Strukturen und Bestrebungen in Sachsen und berät darauf aufbauend Zivilgesellschaft und Politik.
Wirft man einen Blick in das mittlerweile zweite Strategiepapier des Instituts, wird schnell klar, dass sich die Erkenntnisse über die rechtsextreme Szene in Chemnitz auch auf andere sächsische Regionen übertragen lässt.
Die Strategien der extrem rechten Akteur/-innen – von der AfD über die Hooligan-Szene bis hin zu völkischen Siedler/-innen – lassen sich unter dem Konzept der Raumnahme vereinigen. Johannes Kiess, stellvertretender Direktor des EFBI, erklärt: „Es geht hierbei um einen Kampf um den öffentlichen Raum.“
Zum einen werden Themen wie Asylpolitik oder Coronakrise als Möglichkeiten der Provokation genutzt. Die damit einhergehenden Mobilisierungen und Aufstachelungen drängen die etablierte Politik dazu, „Entscheidungen zu treffen, die eigentlich nicht im Sinne der entsprechenden Parteien sind, sondern im Sinne der extrem Rechten“, so Kiess.
Zum anderen wird der physische Raum eingenommen. Bestimmte Bereiche und Stadtteile sollen für People of Colour oder linke Personen zu No-Go-Areas werden. „Am gefährlichsten schätze ich jedoch die Normalisierungsgewinne ein“, schließt Kiess seine Präsentation. „Antidemokratische Haltungen, Aussagen und Handlungen werden dann nicht nur toleriert, sie werden im politischen Diskurs als normal angesehen.“
Doch was macht gerade Chemnitz so interessant für die extrem Rechten? Diese Frage beantwortet der in Chemnitz wohnhafte Steven Seiffert: „Chemnitz ist zwar eine Großstadt, aber gleichzeitig wird es umschlossen von den Landkreisen Mittelsachsen und Erzgebirge, in denen rechte Netzwerke schon sehr etabliert sind. Außerdem ist Chemnitz einfach eine sehr weiße Stadt, was auch klar positiv von Neonazis benannt wird.“
Es seien immer mehr rechte Personen aus dem Westen hergezogen. Die heterogene Gesellschaft in den alten Bundesländern habe diese zu „verlorenen Gebieten“ für die Rechten gemacht. „Trotzdem: Die Zivilgesellschaft in Chemnitz ist sehr aktiv.“ Die Mobilisierung zum Gegenprotest 2018, einem Konzert mit knapp 65.000 Menschen unter dem Motto „Wir sind mehr“, sei der beste Beweis dafür.
Doch wie können die rechten Demonstrationen in Chemnitz, nicht zuletzt im Zuge der Coronakrise, immer noch so wirkmächtig sein? „Die zivilgesellschaftlichen Akteur/-innen fühlen sich alleingelassen“, fasst Kiess die im Strategiepapier genannten Handlungsbedarfe zusammen. Sicherheitsbehörden hätten oft zu spät oder nicht transparent kommuniziert, wer Demonstrationen anmeldet und welche und wie viele Personen dort aus welchem Anlass mitlaufen. Seiffert ergänzt: „Das Landesamt für Verfassungsschutz ist da leider nach wie vor in einer ungewissen Rolle.“
Was bei der Pressekonferenz nach einer aussichtslosen Spirale klingt, wird im Strategiepapier durch konkrete Handlungsanweisungen durchbrochen. Zum einen müssen die Sicherheitsbehörden das Social-Media-Monitoring weiter ausbauen, um bei sich selbst, aber auch bei der Zivilgesellschaft ein klareres Verständnis zu erzeugen.
Ist diese Demonstration ein bürgerlicher oder rechter Protest? Was unterscheidet die beiden überhaupt? Ab wann werden die Handlungen und Einstellungen antidemokratisch? Die Antworten auf solche Fragen müssen anschließend transparent durch die Sicherheitsbehörden kommuniziert werden.
In diesem Zusammenhang muss auch die Strafverfolgung gezielter werden, so Kiess: „Die Urteile sind milde, wenn sie überhaupt gesprochen werden. Strafverfolgung findet oft nicht statt. Das ist ein Riesenproblem, weil es die rechte Szene nur noch stärker mobilisiert, anstatt sie in die Schranken zu weisen.“
Die konsequente Abgrenzung demokratischer Parteien von antidemokratischen Akteur/-innen und Positionen sowie die langfristigere Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projekte sind weitere Schritte, so Seiffert. „Wir müssen immer wieder die Scheinwerfer auf die rechte Szene und ihre Strategien richten, damit ihre Erfolgsaussichten schwinden und sie irgendwann aufgeben.“
„Wie konnte es so weit kommen? Strategiepapier über antidemokratische Strukturen in Chemnitz veröffentlicht“ erschien erstmals am 25. Juni 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 92 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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