Sie irren sich, Herr Assheuer, könnte ich hier beginnen. Kann ich auch. Thomas Assheuer hat zwar Philosophie und Germanistik studiert und ist Redakteur im Ressort Feuilleton bei der „Zeit“. Und am 10. Mai hat er dort seinen Beitrag „Die Panik der liberalen Geister“ veröffentlicht. Aber kein Schlachtruf ist so trügerisch wie der der Freiheit.

Und die Wahrheit ist auch: Die meisten, die ihn auf ihre Plakate und in ihre Reden schreiben, haben eher selten nachgedacht, wissen gar nicht, wovon sie reden. Es klingt ja so schön, wenn man von Freiheit redet. Man hat immer gleich die Bilder von einstürzenden Mauern, geöffneten Gefängnistüren und tanzenden Menschen um Freiheitssäulen vor sich (oder bimmelnde Freiheitsglocken). Als wäre Freiheit ein klar definierter Zustand und immer das Gegenstück zu Unfreiheit.Auf den ersten Blick liest sich logisch, was Assheuer schreibt: „,Freiheit‘ lautet der Schlachtruf der FDP, sie ist in Sorge um liberale Grundrechte und das Wohlleben der Wirtschaft. Freiheit fordern Lockerungslobbys und liberale Philosophen angesichts von ,Ausnahmezustand‘ und Ausgangssperre. Nach Freiheit verlangt die Künstlerinitiative #allesdichtmachen; die Mitwirkenden, bekannt aus Funk und Fernsehen, wollen nicht länger die Pizza im Pappkarton an der Haustür entgegennehmen, sondern in alter Freiheit zu Papà Pane gehen, ihrem Lieblingsitaliener in Berlin-Mitte.“

Aber wer genau hinschaut, merkt, dass von völlig verschiedenen Freiheiten die Rede ist, die nur oberflächlich etwas miteinander zu tun haben. Das steckt selbst in Assheuers Formulierung von der „Sorge um liberale Grundrechte“, die scheinbar die FDP umtreibt, die sonst aber eher für die grenzenlose Freiheit der Märkte kämpft.

Aber wer sich auf Grundrechte bezieht, muss auch die Pflichten erwähnen, ohne die diese Grundrechte nicht funktionieren. Worauf ja gerade der Philosoph Richard David Precht mit seinem neuen Buch „Von der Pflicht“ aufmerksam gemacht hat. Ein „Problem“, das ja seinerzeit schon Immanuel Kant Kopfzerbrechen bereitet hat, denn dem Mann war durchaus klar, dass eine absolute Freiheit in einer Gesellschaft nur eine Form annehmen kann: Anarchie.

Plural bitte: Freiheiten

Alle Freiheiten (und eigentlich müsste man immer konsequent den Plural benutzen, weil es DIE Freiheit als Absolutum nicht gibt und nicht geben kann), die die Emanzipationsbewegungen der Vergangenheit errungen haben, sind vor allem Rechte, also Befreiungen von Verboten und Einschränkungen. Aber gleichzeitig sind sie alle bedingt, was nun wieder ein gewisser Platon vor 2.400 Jahren schon wusste: Alle Staatsbürgerrechte (und nichts anderes meinen die meisten Leute, wenn sie von „Freiheit“ reden) brauchen jemanden, der sie schützt.

Das ist die widersprüchliche Rolle des Staates: Er engt Räume der (anarchischen) Freiheit ein, wird von uns – den Bürgern – aber mit der Macht und der Gewalt ausgestattet, unser friedliches Zusammenleben zu sichern und damit auch unsere Grundrechte, die nun einmal bedingte Freiheitsrechte sind. Und die meisten der im Grundgesetz verankerten Grundrechte wurden nicht mal berührt von den Corona-Maßnahmen. Die anderen wurden teilweise und zeitweise eingeschränkt, um Leben zu schützen und auch das Weiterfunktionieren des Gesundheitssystems zu sichern.

Das ist eine eigene Diskussion (auf die sich dann auch Assheuer fokussiert), die sich aber inzwischen auch im Kreis dreht, weil es dazu nicht mehr zu sagen gibt. Denn all die Freigeister auf den Straßen können das Funktionieren des Gesundheitssystems nicht garantieren. Das kann nur der von uns beauftragte und finanzierte Staat (wenn auch nicht immer so, wie er sollte).

Und deshalb sehe ich in dem künstlerisch völlig vergeigten #allesdichtmachen auch keinen Ruf nach Freiheit. Es sei denn, man malt ein paar Gänsefüßchen dran, weil hier bestenfalls eine Utopie anklingt, die die Teilnehmer dieser selbstgefälligen Video-Clip-Aktion auch in ihrem Vor-Corona-Leben nicht freier gelebt haben. Sie denken es nur.

Aber thematisch zeigen die Clips eher, dass den Beteiligten die Beschränkungen durch die Pandemie und die Allgemeinverfügungen einfach auf den Keks gehen, sie aber nicht wirklich wissen, wie das geändert werden sollte, denn mit den „Querdenkern“ wollen sie ja nun nach eigener Aussage auch wieder nichts zu tun haben.

Die Verantwortung in der Freiheit

Was eben bedeutet, dass in ihnen gerade der von Kant so schön beschriebene Widerspruch sichtbar wird: Sie wünschen sich eine idealisierte „Freiheit“, murren aber eigentlich dagegen an, dass sie in dieser Pandemie mit verantwortlich gemacht werden.

Selbst die „Querdenker“ bringen die Ehrlichkeit nicht fertig, auch wenn sie stets gegen die Zumutungen durch den Staat und die staatlichen Verordnungen wettern, die ja vor allem eins sind: eine Zumutung für alle. Und vor allem – was gerade bei #allesdichtmachen besonders deutlich wird – eine Übertragung von Verantwortung auf jeden einzelnen Bürger.

Das nämlich ist die Last der Freiheit: Dass sie den einzelnen Bürger nicht aus seiner Verantwortung nimmt und alles autoritär von oben herab regelt. (Was wiederum die gewaltige Entlastung durch eine autoritäre Diktatur ist, nach der sich unsere neueren Nationalisten so sehnen. Denn wo einer ganz oben befiehlt, braucht sich der Untertan nicht mehr zu kümmern. Er muss nur gehorchen. Auch das ist eine Freiheit – die von Untertanen besonders geliebte: die Freiheit von Verantwortung.)

Das hat 1989/1990 kaum jemand thematisiert. Man darf die wirklich liberalen Denker in unserer Politik wirklich schmerzlich vermissen. Wer den Schritt in die Freiheit geht, der übernimmt Verantwortung. Und schon vor Corona wurde ja allerenden spürbar, wie überlastet sich viele mittlerweile davon fühlen. Denn wenn alle Verantwortung für das eigene Handeln und Wohlergehen bei mir selbst liegt, dann muss ich auch für alles einstehen, was mir passiert.

Wer ehrlich über Freiheit nachdenkt, der merkt, dass ihn genau das dazu verdonnert, selbstverantwortlich zu handeln. Und zwar ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommt. Jeder ist seines Glückes Schmied, der Spruch beschreibt es einigermaßen. Und die meisten wissen, was das für eine Belastung sein kann, wenn einem keiner sagt, wo es langgeht und man immer wieder vor drei, vier, zehn, hundert möglichen Wegen steht und nicht weiß, welcher jetzt für einen wirklich der „richtige“ gibt.

Aber wer nicht losgeht, erfährt es auch niemals.

Die Last staatlicher Empfehlungen

Und dazu kommt eben der Effekt der Corona-Maßnahmen, die größtenteils lauter Bitten, Empfehlungen, Verfügungen sind, die nur in Bruchteilen kontrolliert werden können. All diese scheinbar so „diktatorischen“ Maßnahmen haben nur Effekt, wenn sich möglichst viele daran halten – aus Vernunft, aus „Einsicht in die Notwendigkeit“. Ein freiheitlicher Staat ist dringend darauf angewiesen, dass seine eigenen Bürger verantwortlich handeln.

Er ist selbst nicht frei (wovon ja gerade all die quälenden Runden der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsident/-innen erzählen), sondern eingebaut in ein System von lauter Abhängigkeiten. Und logischerweise gibt so ein Staat, indem er Pandemie-Verordnungen erlässt, sogar Verantwortung ab. Auch wenn es verrückt klingt.

Das hat Sascha Lobo in seiner „Spiegel“-Kolumne „Warum ich meine eigenen Coronaregeln mache“ kürzlich sehr hübsch erzählt: Denn wenn ein Staat Regeln aufstellt, deren Einhaltung er gar nicht umfassend kontrollieren kann, dann mutet er seinen Bürgern etwas zu. Nämlich sich freiwillig und aus reinen Vernunftgründen an diese Regeln zu halten. Oder auch nicht. Denn nicht nur Lobo geht es so: Einige der so zäh ausgehandelten Regeln sind unpraktikabel, einige auch undurchdacht. Entsprechend wurden sie auch immer wieder von Gerichten kassiert.

Aber der Großteil der Regeln macht Sinn und hat auch positive Effekte – auf die Allgemeinheit natürlich, was sich in sinkenden Infektionszahlen zeigt. Aber auch auf den Einzelnen, denn wer sich an die wichtigsten Regeln in seinem Alltag hält, vermindert sein eigenes Erkrankungsrisiko (ein Null-Risiko wird es niemals geben). Da kann dann durchaus eine Eigeninterpretation wie bei Lobo herauskommen: Was Sinn ergibt, macht man dann einfach und hält das auch durch, bis das alles vorbei ist.

Gerade gegen diese Regeln, die ja vor allem dem Selbstschutz dienen, zu rebellieren, ist schon mehr als nur missverstandene Freiheit. Es ist eher das eingeforderte Recht, sich dumm verhalten zu dürfen. Das freilich zum gesellschaftlichen Problem wird, wenn diese Selbstgerechten damit die Allgemeinheit gefährden.

#allesdichtmachen fällt für mich in eine andere Kategorie und hat auch nichts mit Freiheit oder einem besseren Gespür für die Einschränkung von Freiheitsrechten zu tun, was ja die Verteidiger der Aktion mittlerweile immer öfter behaupten. Tatsächlich spürt man in den Clips eher die vorwurfsvolle Haltung, dass man in Verantwortung genommen wurde, aber eigentlich nicht verantwortlich sein möchte.

Was dann schon an das leider heute sehr opportune Verständnis von Liberalismus grenzt, der eigentlich ein Illiberalismus ist, weil er seine Freiheitsrechte eben auch gegen die Rechte anderer ausleben will. Individualismus und Egoismus sind hier die heiligen Flaggen eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbsdenkens, das die Abschaffung von Regularien als „Freiheit“ verkauft, obwohl selbst ein kleines Nachdenken zeigt, dass die ausgelebte „Freiheit“ des einen immer die Beschränkung der Freiheit anderer ist. Oder eher die Beschneidung: Leben auf Kosten anderer. Tolle Einstellung.

So gesehen zeigt #allesdichtmachen ziemlich genau, wie sehr das Verständnis von Freiheit in unserer Gesellschaft aus dem Lot ist, ohne dass es selbst begabte Schauspieler/-innen noch merken. Es gibt keine Freiheit ohne Voraussetzungen und Bedingungen. So schön die Reden der selbsternannten „Freiheitskämpfer“ auf den politischen Tribünen auch klingen. Damit kann man Massen berauschen und selbst hochgradig betrunken werden. Bis zum Kater danach, wenn die Frage steht: Und wie sollen all die schönen Freiheiten jetzt gesichert werden? Wer übernimmt eigentlich diese undankbare Aufgabe?

Sie sehen schon, das ist eine andere Diskussion als die, die unsere Schönschwätzer gerade führen. Man kommt da schon eher in die sehr nachdenkliche Welt der Autor/-innen des Grundgesetzes. Und in die Karl Poppers, der sehr wohl wusste, dass auch „Freiheitskämpfer“ sehr intolerant werden können.

Hier gibt es jetzt drei Pünktchen für alle, die nur zu gern auch über solche Dinge nachdenken

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Es gibt 3 Kommentare

Lieber Herr Julke, danke für Ihre Kommentare.
Ich bin zwar Akademiker und nicht gerade ungebildet, wäre aber niemals in der Lage, meine Gedanken so brillant zu artikulieren. Wenn ich Sie lese, weiß ich, genau so ist es, genau das ist auch meine Auffassung, aber ich hätte es so nie ausdrücken können. Die Stringenz Ihrer Ausführungen begeistert mich immer wieder.
Bleiben Sie gesund und alles Gute.

Um es mal kurz zu sagen: Es gab nicht einmal einen Plan A, der nach dem schnell angesetzten Lockdown im April 2020 hätte aufgestellt werden können (Testkonzepte, Maskenbeschaffung, genauere Hygienekonzepte). Stattdessen gab es einen Sommer der Sorglosigkeit. Nun baden wir seit November die Folgen aus.

Das hat aber eher wenig damit zu tun, was “Freiheit” meint. Mit der Mehrdeutigkeit dieses Worts (wirtschaftliche vs bürgerliche Freiheit) spielen die Neoliberalen schon seit Jahrzehnten, und ich wundere mich, wieso immer noch darauf reingefallen wird.

Das, was die FDP will, ist ein Nachtwächterstaat, der zugleich den Bürgern auch Handlungsoptionen materiell ermöglicht.

Zum Beispiel den gleichzeitigen Bau einer Kfz-Straße, eines Radwegs und eines Fußwegs: damit der Bürger jeden Tag neu sich für eines dieser drei Vergnügen entscheiden kann. Weil das aber im großen Stil nicht geht, muss eine Ungleichbehandlung erfolgen. Derzeit wird dem freien Bürger eben die freie Fahrt entzogen.

Oder das Ding mit den “Leistungsträgern” (allein schon das Wort!). Leistung muss sich wieder “lohnen”, d.h. die Abgaben sind “zu hoch”. Das, was der “Leistungsträger” nach Hause einfährt, ist auch das Geld, was anderen Leistungsträgern vorenthalten wird. Ach ja, Gesundheits- und Bildungssystem sollen auch von den Abgaben der Unterschicht gestemmt werden, damit der “Leistungsträger” seine Herz-OP von studierten Ärzten für sehr lau bekommt (nur die Rezeptgebühren fallen ab).

Ich denke mal, die deutschen Neoliberalen finden die Verhältnisse in den USA urst geil…aber bitte ohne deren Gesundheitssystem…

Ludwig Erhard wird mit seinem Slogan “Wohlstand für Alle” und der Idee der Sozialen Marktwirtschaft noch sehr unterschätzt. Da gehörten auch die bürgerlichen Freiheiten mit dazu.

Aber in den 1980ern begann die Wirtschaftselite, die erwirtschafteten Mehrwerte der kleinen Leute zu verfrühstücken.

Man könnte in Deutschland viel weiter sein. Man hätte nicht Angst um Pflegepersonal haben müssen. Den Besserverdienenden wurde zuviel “Freiheit” eingeräumt. Nun machen sie diese sündteuren “Impfreisen”…

Hier wird von Freiheit gesprochen, welche Freiheit bleibt wir keine Alternative zur eigenen Entscheidung haben. Den zum Beispiel das ungeimpfte Kinder nicht zu Schule gehen können, wo bleibt da die Schulpflicht. Was ist, wen wir noch mehr Menschen in Deutschland an Gehirnblutungen verlieren als durch Corona? Was ist wenn wir alle geimpft sind und Corona bleibt, gibt es da einen Plan B?

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