„Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland das Problem der Langzeitfolgen nach COVID-19 noch nicht so angekommen ist.“ Was die Berliner Charité-Ärztin Carmen Scheibenbogen kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“ sagte, dürfte sowohl bei Betroffenen als auch bei Menschen, die sich vor einer Erkrankung fürchten, auf große Zustimmung stoßen.

Viele Berufsgruppen sind unzureichend geschützt und der Fokus auf die Zahl der belegten Krankenhausbetten, den es in Sachsen neuerdings gibt, lässt vermuten, dass „Durchseuchung“ akzeptabel ist, solange die Intensivstationen nicht überlastet werden. Ob und wie viele Menschen sich mit Corona infizieren und einerseits einen milden Verlauf haben, aber andererseits möglicherweise für Monate oder noch länger an den Spätfolgen leiden, erscheint da offenbar eher zweitrangig.Dennis Vogler* gehört zu jenen Menschen, die sich mit Corona infiziert haben und seitdem mit heftigen Problemen kämpfen. Ein Jahr ist vergangen, seitdem sich Vogler zur Reha in einem Leipziger Krankenhaus befand und mutmaßlich dort mit dem Virus ansteckte. Der 32-Jährige brachte Corona mit nach Hause, zu seiner 29-jährigen Freundin, die sich ebenfalls infizierte. „Wir hatten einen milden Verlauf“, sagt er. Wobei „mild“ in diesem Fall bedeutet: Husten, Kopfschmerzen, Geruchsverlust, Geschmacksverlust und Kurzatmigkeit mit einem „Gefühl, jemand würde auf den Brustkorb drücken“.

Kurzatmigkeit bleibt

Im Gespräch mit Vogler ist die Kurzatmigkeit immer noch zu hören – ein Jahr später. Redet er lange am Stück, muss er kurz unterbrechen, um Luft zu holen. Im Vergleich zum Treppensteigen ist das noch harmlos. Er wohnt im Dachgeschoss und ist komplett außer Atem, wenn er oben ankommt. „Vorher war das kein Problem.“ Auch Laufen war vorher kein Problem und ist heute kaum noch denkbar. Hinzu kommen Konzentrationsstörungen. Nach seiner COVID-Erkrankung wurde Vogler depressiv und begab sich für mehrere Monate in eine Klinik. Seine Freundin wurde ebenfalls wegen einer Depression behandelt.

Dass sich beide von Ärzt/-innen teilweise nicht ernst genommen fühlen, verschärft die Probleme. Seine Freundin kann zumindest für drei Stunden am Tag ihren Job bei einem Textilunternehmen ausüben, den sie während ihres Studiums hat. Danach sei sie aber ebenfalls erschöpft. Einen „hohen Leidensdruck“ bei den Betroffenen sieht auch Stefanie Fehre. Die Ärztin leitet am Krankenhaus in Altscherbitz – einem Stadtteil von Schkeuditz – die Spezialsprechstunde für Menschen, die vom „Post-COVID-Symptom“ betroffen sind.

In einem Erstgespräch soll zunächst geklärt werden, wo genau die Probleme liegen. Bei vielen sei es eine Kombination, wobei Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten in der Form, wie sie Vogler stark beeinträchtigen, typisch sind. Sind die Probleme rein körperlich – beispielsweise Atemnot –, lassen sie sich in Altscherbitz eher schlecht behandeln. Bei dem Krankenhaus handelt es sich um eine Facheinrichtung für Psychiatrie und Neurologie.

Corona-Ambulanz seit März in Betrieb

Die Post-COVID-Ambulanz existiert seit Anfang März. Seitdem habe sie etwa 20 Betroffene beraten, erzählt Fehre. Allzu viele Gespräche könne sie nicht führen, da jedes einzelne eine gewisse Zeit in Anspruch nehme. Im Anschluss an die Erstberatung sucht die Ärztin gemeinsam mit den Betroffenen nach geeigneten Therapiemöglichkeiten – gegebenenfalls im eigenen Haus, wo zum Beispiel daran gearbeitet werden könne, sich bei Panikattacken oder Atemproblemen wieder zu entspannen.

Maria Kohl* ist eine der Betroffenen, die sich kürzlich nach Altscherbitz begeben hat. Die 40-Jährige hat sich im vergangenen Dezember mit Corona infiziert. Wahrscheinlich geschah es während der Arbeit in einem Büro, wo sie sich zwei Stunden lang mit einer anderen Person unterhalten hat – trotz drei Metern Abstand und geöffnetem Fenster.

Die folgenden Beschwerden waren eine „Wundertüte“, wie Kohl sagt. „Jeden Tag etwas anderes.“ Es begann mit einem Schmerz in der Brust, gefolgt von trockenem Husten und Schnupfen. Als auch Geruchs- und Geschmackssinn verschwanden, ließ sie sich auf Corona testen. Später kamen noch Atemprobleme dazu.

Die Einschätzung des Arztes („wird schon“) schien sich zunächst zu bewahrheiten: Während einer sechswöchigen Kur wurde es besser. Mitte März wollte Kohl in den öffentlichen Dienst zurückkehren; zunächst mit reduzierten Arbeitszeiten. Doch bereits in der zweiten Woche waren Herzrasen und Schwächegefühl wieder da. „Früher bin ich 10.000 bis 15.000 Schritte am Tag gegangen und war nie außer Atem“, sagt Kohl. Mittlerweile fallen ihr selbst simple Tätigkeiten schwer.

Beschwerden heruntergespielt

„Einmal wollte ich kochen und konnte plötzlich nicht mehr stehen.“ Ein anderes Mal habe sie das Gefühl bekommen, ihre Muskeln im Bauch würden nachlassen. Ärzt/-innen würden ihre Beschwerden teilweise herunterspielen. Diese seien vor allem psychologisch bedingt, sagen sie. „Zum Teil ist das sicher so. Meine Situation war lebensbedrohlich.“ Aber dass sie nach dem Joggen drei Tage außer Gefecht ist, könne wohl kaum nur mit Ängsten erklärt werden.

Kohl kritisiert allerdings nicht nur fehlendes Einfühlungsvermögen bei Ärzt/-innen, sondern auch, dass es generell kaum Nachsorge für Menschen mit überstandener Corona-Infektion gebe. Momentan müsste sie sich für verschiedene Beschwerden jeweils eine/-n Ärzt/-in aus dem passenden Fachbereich suchen. „Da muss mehr passieren.“ Sie selbst habe bereits mehrere Kliniken angeschrieben und sich nach interdisziplinären Ansätzen erkundigt. Das sei in Planung, lauteten die Antworten.

Dass die Post-COVID-Ambulanz in Altscherbitz bislang die einzige spezialisierte Einrichtung in ganz Sachsen ist, bestätigt auch das Sozialministerium des Freistaates. Auf LZ-Anfrage teilte dieses mit: „Erste Anlaufstelle für COVID-Genesene sind der Hausarzt beziehungsweise die Hausärztin, die gegebenenfalls weitere fachärztliche Diagnostik oder Behandlung veranlassen.“

Wie viele Menschen in Sachsen an „Long COVID“ leiden, kann das Ministerium nicht sagen. „Uns liegen dazu keine Angaben der Sozialversicherungsträger vor. Das ist zum einen begründet in den andauernden Abrechnungsprozessen der Leistungserbringer; zum anderen ist anzunehmen, dass die Behandlungsdaten der Genesenen erst der systematischen Auswertung bedürfen.“

Selbsthilfegruppe in Leipzig

Keine professionelle Hilfe, aber zumindest den Austausch unter Betroffenen bietet eine Selbsthilfegruppe, die sich vor einigen Wochen in Leipzig gegründet hat. Im Zwei-Wochen-Rhythmus treffen sich eine Handvoll Menschen, um über ihre Probleme zu reden – wie alle anderen der mehr als 300 Selbsthilfegruppen in Leipzig derzeit nur digital.

Die Altersspanne ist groß, berichtet Ina Klass, die im Gesundheitsamt für Selbsthilfegruppen zuständige Sozialarbeiterin. Die jüngste Person ist Anfang 20; die älteste etwa 70. „Alle sind froh, zu sehen, dass sie nicht allein sind.“ Vor allem der Erfahrungsaustausch steht im Mittelpunkt. Menschen, die unter „Long COVID“ leiden, haben Tipps für andere Betroffene, wie diese den beschwerlichen Alltag meistern können.

Dennis Vogler nutzt die mehr oder weniger guten Tage, die sich mit den schlechten abwechseln, um Rad zu fahren. Er wandert auch gerne, benötigt dabei aber viele Pausen. Sport zu machen, sei wichtig, um die Lunge zu trainieren, habe seine Ärztin empfohlen. Zudem nimmt er Antidepressiva. Seine Leidensgenossin Maria Kohl hat sich ein Stück weit mit „Long COVID“ arrangiert. „Ich versuche, jeden Tag zu genießen und so zu nutzen, wie er ist.“

Etwas anderes bleibt all jenen, die Corona nie wirklich überstanden haben, vorerst sowieso kaum übrig. Die Charité-Ärztin Scheibenbogen verweist darauf, dass die US-Regierung bereits 1,15 Milliarden Dollar für die Long-COVID-Forschung zur Verfügung gestellt habe. „Von so etwas konnte man bisher in Deutschland nur träumen.“ All jenen, die – nicht nur wegen Corona – an chronischer Erschöpfung leiden, kann sie etwas Hoffnung machen: „Ich bin zuversichtlicher denn je, dass wir in einigen Jahren eine Therapie haben werden.“ Bleibt zu hoffen, dass möglichst wenige Menschen noch so lange warten müssen.

*Namen geändert

„Leben mit Long COVID“ erschien erstmals am 30. April 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG.

Unsere Nummer 90 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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