Ein antisemitischer Angriff in Leipzig und was das รผber den Umgang mit in Deutschland lebenden Jรผdinnen und Juden sagt. Ein Gastbeitrag von Benjamin Damm am Tag der Befreiung: Wรคhrend das deutsche Feuilleton diskutiert, welche Antisemitismus-Definition am โ€žbestenโ€œ wรคre, und ob man Israel dennoch โ€žkritisierenโ€œ dรผrfe, erfahren Jรผdinnen und Juden in Deutschland immer wieder, wie sich diese โ€žKritikโ€œ ganz konkret anfรผhlt. Der aktuellste Vorfall aus Leipzig verdeutlicht dies sehr drastisch.

Der Vorfall in Leipzig-Gohlis

Am Montag, dem 3. Mai, wollte eine junge Frau Gepรคck in ihr Auto bringen. Gegen 22 Uhr begegnete ihr eine Nachbarin im Hausflur, welche in der Vergangenheit des ร–fteren durch antisemitische Aussagen aufgefallen war. Die junge Israelin mit Gepรคck im Hausflur zu sehen schien jene Nachbarin dazu zu ermuntern, sie anzuschreien, dass sie Deutschland verlassen solle, da sie nicht erwรผnscht sei, sowie zu drohen, die Polizei zu rufen, um sie deportieren zu lassen.

Nachdem das Gepรคck im Auto verstaut war, kam es zu einer erneuten Attacke: Die Nachbarin versuchte, die jรผdische Person daran zu hindern, das Haus zu betreten, wobei sie handgreiflich wurde. Irgendwann gelang es der angegriffenen Person, ins Haus zu gelangen und sich bei ihrer Partnerin in der gemeinsamen Wohnung zu verschanzen.

Daraufhin begann besagte Nachbarin damit, Sturm zu klingeln, gegen die Wohnungstรผr zu hรคmmern und immer wieder zu rufen, dass die beiden โ€žzurรผck nach Israelโ€œ gehen sollen, da sie โ€žhierโ€œ nicht erwรผnscht seien.

Die verstรคndigte Polizei kam erst nach รผber einer Stunde. Die Angreiferin bestritt den Vorfall, woraufhin die Beamten unverrichteter Dinge den Ort des Geschehens wieder verlieรŸen. Erneut klopfte die Nachbarin an der Tรผr der beiden Frauen und gab sich als Polizeibeamtin aus.

Als ihr daraufhin die Tรผr vor der Nase zugeschlagen wurde, begann die Attacke erneut: Sie versuchte, sich gewaltsam Zugang zur Wohnung zu beschaffen, klingelte ununterbrochen und schrie antisemitische Statements durch den Hausflur. Keiner der รผbrigen Nachbarn reagierte.

Die erneut gerufene Polizei erschien verhรคltnismรครŸig schnell, drohte jedoch der Nachbarin lediglich, sie bei einem erneuten Anruf mitnehmen zu mรผssen. Beide Betroffene haben daraufhin die Wohnung, mittlerweile sogar die Stadt verlassen und trauen sich nicht mehr zurรผck.

So schildert eine der beiden Angegriffenen den Vorfall auf ihrer Facebook-Seite. โ€žGermany 2021. 48 hours ago I was attacked by my neighbor in Germany only because I am a Jewish, Israeli and Hebrew speakingโ€œ, schrieb sie in ihrem Statement.

Darin betonte sie auch, dass diese Nachbarin anfangs aufgeschlossen und freundlich war. Erst als diese erfuhr, dass die beiden Frauen Hebrรคisch miteinander sprechen und aus Israel kommen, kehrte sich ihr Verhalten ins Gegenteil und wurde hasserfรผllt. Es ging eben nicht darum, dass man keine โ€žfremdenโ€œ Menschen im Haus will โ€“ man will schlicht und ergreifend keine โ€žJudenโ€œ in der Nachbarschaft.

โ€žMan wird doch wohl noch kritisieren dรผrfenโ€œ

Der Vorfall belegt, wie sich eine allseits beschriebene โ€žIsraelkritikโ€œ im konkreten Fall zumeist รคuรŸert: Jรผdinnen und Juden werden weltweit mit Israel in Verbindung gebracht und fรผr alles, was man allgemein meint, Israel vorwerfen zu mรผssen, verantwortlich gemacht.

In einem Video des YouTube-Formats โ€žstrg_fโ€œ wird vรถllig einseitig behauptet, dass der โ€žImpfweltmeisterโ€œ Israel keine Palรคstinenser/-innen impfen wรผrde โ€“ die mehrfach durch die Palรคstinensische Autonomiebehรถrde ausgeschlagenen Angebote werden mit keiner Silbe erwรคhnt.

Im Magazin โ€žFocusโ€œ spricht sich eine jรผdische Person pro BDS und fรผr die โ€žJerusalem Declarationโ€œ aus โ€“ ohne zu erwรคhnen, dass beide israelbezogenen Antisemitismus bagatellisieren. Die Boykottbewegung โ€žBoykott, Divestment and Sanctionsโ€œ (BDS), verunglimpft Israel regelmรครŸig als โ€žApartheitstaatโ€œ sowie โ€žKindermรถrderโ€œ.

Dies sind nicht nur alte antisemitische Stereotype, sondern schlichtweg beabsichtigte Lรผgen, die einzig und alleine dem Zweck dienen, den jรผdischen Staat zu dรคmonisieren. Mit der sogenannten โ€žJerusalem Declarationโ€œ versuchen einige (wenige) Institutionen, einen Gegenentwurf gegen die Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der โ€žInternational Holocaust Remembrance Allianceโ€œ (IHRA) in Stellung zu bringen. Die Definition der IHRA wurde u. a. als konkrete Handreichung zur Hilfestellung im Umgang mit Antisemitismus fรผr Behรถrden entwickelt.

Sie bezieht nicht nur klassische Ausdrucksformen von Antisemitismus mit ein, sondern eben auch jene, die sich gegen Israel wenden oder sich strukturell in Form von Verschwรถrungserzรคhlungen artikulieren. Frei nach dem Motto โ€žMan wird ja Israel noch kritisieren dรผrfenโ€œ, versucht die โ€žJerusalem Declarationโ€œ in ihrem Gegenentwurf eben dies unter den Teppich zu kehren. Wรคhrend es fรผr keinen anderen Staat auf der Welt einen feststehenden Kritik-Begriff gibt, will man obsessiv den einzigen jรผdischen Staat โ€žkritisierenโ€œ wollen, wobei diese โ€žStaatskritikโ€œ auch gerne mal zur Vernichtung dessen aufruft.

Normalitรคten

Vor knapp einem Jahr รคuรŸerte Holger Stahlknecht, Sachsen-Anhalts Innenminister, Bรผrger seien schlechter geschรผtzt, da Polizeibeamte vor jรผdischen Einrichtungen stehen mรผssten und dadurch รผberlastet seien. Diese infame Aussage bekommt einen noch faderen Beigeschmack, wenn Polizeibeamte viel zu spรคt bei antisemitischen Angriffen auftauchen โ€“ so wie im eingangs beschriebenen Fall in Leipzig.

Immer wieder berichten Betroffene auch, dass sie sich, im Falle des Eintreffens der Beamten, von der Polizei weder geschรผtzt noch ernst genommen fรผhlen. Wรคhrend ein Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge 2014 vom Gericht als โ€žIsraelkritikโ€œ und nicht als antisemitische Tat ausgelegt wurde, wurde vor kurzem in Frankreich ein Jugendlicher, der eine Holocaustรผberlebende in ihrer Wohnung ermordete, als nicht schuldfรคhig eingeordnet, da er zum Tatzeitpunkt bekifft war.

All dies fรผhrt dazu, dass sich Jรผdinnen und Juden weder in Deutschland noch anderswo in Europa geschรผtzt oder wohlfรผhlen.

Der ehemalige Ministerprรคsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, sagte vor nunmehr zwanzig Jahren: Die โ€žSachsen sind immun gegen Rechtsextremismus!โ€œ. Dass diese Aussage vรถlliger Quatsch ist, sollte klar sein. Jedoch beweist der beschriebene Vorfall, dass Antisemitismus nicht immer mit rechtem Gedankengut zusammengeht, sondern auch, dass niemand, weder in Sachsen noch sonst irgendwo in Deutschland, โ€žimmunโ€œ dagegen ist.

Hier spielen zwei zentrale Aspekte zusammen: der alltรคgliche Antisemitismus im Hausflur und das Nicht-Handeln der Politik รผber Jahrzehnte.

In Ansprachen wird immer wieder beteuert, wie wichtig der Schutz von jรผdischem Leben sei โ€“ doch real zeigt sich davon wenig. Denn die Reden werden immer nur dann gehalten, wenn an totes jรผdisches Leben erinnert wird und direkte Konsequenzen fรผr den Schutz von noch lebenden Jรผdinnen und Juden hat es nicht.

In der Selbstversicherung โ€žAber wir haben dochโ€ฆโ€œ manifestiert sich die Entlastung, die die deutsche Form der Erinnerung fรผr jeden Einzelnen liefert: Der toten Juden muss man gedenken, damit man als Deutscher wieder atmen kann.

Was bleibt?

Die Attacke in Leipzig zeigt zusรคtzlich, wie tief der Antisemitismus in der Gesellschaft verwurzelt ist. Es waren keine marodierenden Nazischlรคger oder radikale Islamisten โ€“ es war die โ€žganz normaleโ€œ Nachbarin, die hier angriff. Natรผrlich ist die Gefahr durch organisierte Nazi- oder Islamistengruppen nicht zu unterschรคtzen, da diese zu รคuรŸerster Gewalt bereit sind. Doch der ganz alltรคgliche, tiefsitzende Antisemitismus wird gerne im Zeigen auf andere heruntergespielt und verdrรคngt.

Dabei wird nur zu gerne vergessen, dass genau dieser die Gewalttaten mit legitimiert und ein Klima schafft, in dem sich Jรผdinnen und Juden nicht mehr wohlfรผhlen. Ob man (aus Unwissenheit) gefragt wird, warum man einen โ€žWurfsternโ€œ als Kette trage oder aufgrund des Davidsterns um den Hals angespuckt wird โ€“ der Eindruck bleibt, dass jรผdisches Leben weder prรคsent noch gewollt ist in der deutschen ร–ffentlichkeit.

Ein Exkurs durch die jรผdische Geschichte in Leipzig am Beispiel des Sportclubs โ€žBar Kochbaโ€œ

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der โ€žCoronakriseโ€œ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รœber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.

Vielen Dank dafรผr.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar