Neben vielen schrecklichen Nachrichten im Rahmen der Pandemie stellten die Medien in den vergangenen Monaten auch positive Effekte der Coronakrise heraus: „Luft war im Corona-Jahr 2020 so gut wie noch nie“ (Süddeutsche Zeitung), „Das sind die Gewinner der Coronakrise“ (MDR), „Coronavirus fördert Zusammenhalt“ (Merkur), „Von Klopapier bis Porno-Konsum – Wer von der Coronakrise profitiert“ (ZDF).
Die Digitalisierung schreitet voran, die Umwelt erholt sich, die Gesellschaft hält stärker zusammen, einige Branchen profitieren und das Pflegepersonal wird endlich gewürdigt. Die „Leipziger Zeitung (LZ)“ sprach mit sozialen Einrichtungen und Krankenpfleger/-innen, wertete Statistiken verschiedener ökonomischer Verbände aus und bat um Antworten beim Umweltministerium, um der Frage auf den Grund zu gehen: Gibt es wirklich Gewinner in der Coronakrise?
Amazon, Netflix und Zoom
Am leichtesten lässt sich diese Frage wohl im Falle der ökonomischen Sieger beantworten. Der Bundesverband deutscher Unternehmensberater (BDU) bestätigt in seiner Evaluierung: Ja, die Pandemie hat einigen Branchen zum Aufschwung verholfen. Zunächst seien hierbei die Internet-Giganten zu nennen: Der Online-Handel, beispielsweise über Amazon, boomte. Während die Regale des Einzelhandels zuweilen leer gefegt waren, konnte man im Internet weiterhin Toilettenpapier, Masken, Desinfektionsmittel oder Konserven erwerben. Amazon erlebte hierdurch eine geschichtsträchtige Wertsteigerung von 45Prozent an der Börse.
Derweil arbeiteten die Menschen nicht nur im Homeoffice, sondern verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit in den eigenen vier Wänden. Streamingdienste wie Netflix, aber auch Hörbuchanbieter und Co. wurden überdurchschnittlich viel in Anspruch genommen. Es dürfte ebenfalls wenig verwundern, dass Video-Conference-Tools wie Zoom seit Beginn der Pandemie Milliarden Euro erwirtschaftet haben – Schule, Arbeit, private Treffen finden zurzeit überwiegend online statt. Auch der medizintechnische Bereich geht selbstverständlich als Gewinner aus der Krise hervor.
Sportbekleidung und -geräte, Bücher und Spiele sind während des Lockdowns ebenfalls stark gefragt. Im September lag die Produktion der Spielwaren-Branche 35 Prozent über dem Vorjahreswert, so das Statistische Bundesamt. Während der Absatz der Autoindustrie im ersten Halbjahr 2020 auf einem Rekordtief seit der Wiedervereinigung war, meldeten Fahrradhersteller und -händler steigende Zahlen. Brian Schumann, Leiter der Diamant-Fahrradwerke, aus dem sächsischen Hartmannsdorf berichtet: „Wir hatten im Mai bis zu 100 Prozent mehr Verkäufe.“
Hierbei darf jedoch nicht vergessen werden, dass unter dem coronabedingten Aufschwung einiger Branchen andere leiden und die gesamte Wirtschaft mit dem Ausscheiden beispielsweise lokaler Unternehmen große Verluste verzeichnen muss.
Kurzfristige Klima-Auswirkungen statt langfristiger Umwelt-Erholung
Zunächst klingen die Statistiken des Umweltbundesamtes (UBA) vielversprechend: Nur vier Prozent der 400 ausgewerteten Messstationen in Deutschland überschritten 2020 den kritischen Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft. Im Vorjahr lag der Wert noch bei knapp 21 Prozent. Währenddessen gab das Sächsische Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft (SMEKUL) für die Teststation Leipzig Mitte an, dass 2020 nur an einem Tag der kritische Wert der Feinstaubbelastung überschritten wurde. 2019 war dies an neun Tagen der Fall. Andere Messwerte in Sachsen bestätigen diese Tendenz.
Das Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) erklärt, dass vor allem umweltpolitische und gesellschaftliche Trends sowie meteorologische Effekte die Konzentration von Luftschadstoffen gravierend verändern. Um beurteilen zu können, inwiefern die Corona-Maßnahmen Einfluss auf die Luftqualität hatten, müssen solche Effekte herausgerechnet werden: „Eine ausführliche Bewertung der Luftqualität erscheint im Sommer im ‚Jahresbericht zur Immissionssituation 2020 in Sachsen‘. Darin wird auch auf die Auswirkungen der coronabedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf die Luftqualität eingegangen.“
Laut dem Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (SMWA) wurde das sächsische Straßennetz 2020 weniger beansprucht als im Vorjahr. Die automatischen Dauerzählstellen meldeten Rückgänge von zehn bis 13 Prozent in der Verkehrsstärke. Die Flugzeugbewegungen am Flughafen Dresden nahmen um die Hälfte ab, während am Flughafen Leipzig/Halle der Frachtverkehr zunahm und somit nur geringe Verluste verzeichnet wurden. Zum öffentlichen Personennahverkehr konnten die Staatsministerien keine konkreten Angaben machen, das SMEKUL gibt trotzdem eine Einschätzung ab: „Grundsätzlich sind die Fahrgastzahlen infolge der Corona-Pandemie im ÖPNV zwar deutlich zurückgegangen. Das Angebot wurde aber durch Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger weitestgehend aufrechterhalten. Es ist daher von eher geringen Umweltauswirkungen auszugehen.“
Neben der offensichtlichen Reduktion des Verkehrs bedingte die Pandemie auch andere Bereiche. Eine eindeutige Bilanz daraus zu ziehen, sei schwierig. Dennoch nennt Burkhard Beyer, Referent am SMEKUL, zwei Beispiele für coronabedingte Effekte auf die Umwelt: Erfreulicherweise hätten regionale und Bio-Produkte im Bereich der Lebensmittel deutlich mehr Absatz gefunden. Damit verbunden sind weniger Transporte und eine ressourcenschonende Produktion.
Auf der anderen Seite seien jedoch auch negative Auswirkungen präsent: „Die Konzentration auf einige Ziele und Regionen im Freizeit-/Urlaubsbereich hat regional zum Teil enorme Auswirkungen auf die Umwelt. Mit Bezug auf Sachsen sei der Nationalpark Sächsische Schweiz genannt, der im vergangenen Jahr sehr stark frequentiert war. Dabei wurden oft allgemeingültige wie auch parkspezifische Regeln missachtet, was sich beispielsweise in illegalen Müllablagerungen, Gewässerverschmutzung oder Störungen der teils sehr empfindlichen Tier- und Pflanzenwelt niederschlug.“
Die Pandemie scheint somit nur kurzfristig auf das Klima einzuwirken. Vor allem in Anbetracht der negativen Auswirkungen, vom individuellen Leid bis hin zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen, kann in keinem Fall von einem positiven Effekt die Rede sein. Die Coronakrise kommt nicht als Retter der Umwelt daher: Vielmehr muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, das durch politische Rahmensetzungen unterstützt wird.
Applaus reicht leider nicht
Zu Beginn der Coronakrise gingen Videos aus Italien um die Welt: Singende Menschen an den Balkonen, die ein Zeichen für Hoffnung und Dankbarkeit setzen wollten. Dankbarkeit vor allem für die unermüdlichen Helfer/-innen und Pflegekräfte. Im März schlossen sich deutsche Städte an. Der Aufruf zu einer Solidaritätsaktion bewegte Bürger/-innen in Berlin, Leipzig, Köln, Hamburg und an vielen anderen Orten zu einem Applauskonzert: „Nun heißt es, Zusammenhalt und Anerkennung zeigen!“, hieß es in den sozialen Medien. „Kommt jeden Abend 21 Uhr alle an eure Fenster und auf eure Balkone und applaudiert für die Menschen, die derzeit immer noch für uns und die Gesellschaft arbeiten.“
„Ich habe Wertschätzung auch schon vor der Coronakrise erfahren, vor allem im Gespräch mit unbekannten Personen, denen ich erzählte, dass ich als Krankenschwester tätig bin. Derzeit sollte der Applaus vor allem den Menschen zukommen, die den direkten Kontakt zu Corona-Erkrankten, welche größtenteils schwerst- und sterbenskrankauf Intensivstation liegen, haben. Diese Pfleger/-innen arbeiten, wie in anderen Bereichen auch, unterbesetzt und unter einem psychisch erhöhten Anforderungsniveau aufgrund der vielen kritischen Krankheitsverläufe. Ich bin mir nicht sicher, ob das Menschen, die nicht in der Pflege arbeiten oder in irgendeiner Weise daran beteiligt sind, bewusst ist“, beurteilt eine Leipziger Kinderkrankenpflegerin, die anonym bleiben möchte, diese Aktion.
Im April 2020 zog dann die Politik nach. Eine Auszubildende in der Altenpflege aus Leipzig verknüpft das Klatschen von den Balkonen mit politischen Veränderungen: „Durch diese Aktionen und die Krise allgemein sind Missstände, die schon lange bekannt waren, nun auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen und nicht nach drei Tagen wieder aus den Medien verschwunden.“ So beschloss das Bundeskabinett höhere Mindestlöhne in der Pflegebranche: Bis 2022 sollen diese von heute 10,85 Euro (Ost) und 11,35 Euro (West) auf 12,55 Euro pro Stunde in Ost- und Westdeutschland steigen. Für Pflegefachkräfte wird noch dieses Jahr auf 15 Euro die Stunde aufgestockt. Zu den dauerhaften Lohnerhöhungen gesellten sich im September Einmalzahlungen für Pflegekräfte in Altenheimen und Krankenhäusern. Der Bonus erreichte jedoch nur 100.000 von 440.000 Pfleger/-innen in Kliniken.
Die Pandemie stellt für einen Teil der Pflegekräfte eine zunehmende Belastung dar. Vor allem die Arbeit auf Corona-Stationen zerrt an den Nerven und Kräften des Personals. Dennoch rückten die längst bekannten Probleme der Branche – chronische Unterbesetzung, familienunfreundliche Arbeitszeiten, unangemessene Bezahlung, psychische Belastung und fehlende Möglichkeiten in der beruflichen Weiterentwicklung – in den Fokus von Gesellschaft und Politik. Ein erster Schritt in eine wichtige, richtige Richtung. Weitere Schritte müssen zwingend folgen.
Keiner darf vergessen werden
Besonders für Risikogruppen stellt die Coronakrise eine Herausforderung dar – der Wocheneinkauf wird lebensbedrohlich, die Gassirunde erfüllt alte und kranke Personen mit Furcht und Sorgen. Doch gerade in dieser Zeit zeigt sich, dass die Gesellschaft sich bemüht keinen zurückzulassen. So setzen sich nicht nur individuelle Nachbarschaftshilfen für die stark Betroffenen ein; auch verschiedene Institutionen organisieren Hilfsprogramme.
Die Stiftung „Ecken wecken“ bringt in Leipzig Hilfesuchende und freiwillige Unterstützer/-innen zusammen: „Aktuell organisieren wir die Corona-Hilfe, ein stadtweites Netz zur nachbarschaftlichen Unterstützung in der Coronakrise.“ Tiere ausführen, den Einkauf erledigen, kontaktlose Lernhilfe für Kinder oder ein ungezwungenes Gespräch am Telefon, um Ängste und Hoffnungen teilen zu können. Über 1.000 Helfer/-innen haben sich bisher gemeldet, knapp 300 Mal wurde die Unterstützung in Anspruch genommen.
„Der Bedarf besteht weiterhin, aber wir haben den Eindruck, dass gegenüber der ersten Lockdown-Phase die Leute mittlerweile auch mehr über ihr persönliches Umfeld Unterstützung suchen und finden“, erklärt Thorsten Mehnert, Vorstand bei „Ecken wecken“. Dennoch zeige sich, dass in den Randbezirken, beispielsweise in Grünau, mehr Hilfebedarf besteht als Unterstützer/-innen verfügbar sind.
Mehnert schließt: „Es wäre schön, wenn dieser gesellschaftliche Zusammenhalt die Corona-Zeit überdauern würde. Und wir wollen weiter an dessen Stärkung arbeiten.“ Nachbarschaftshilfen sollten auch abseits der Pandemie fortgeführt werden – man weiß nie, wer sich allein fühlt und Hilfe braucht.
„Gibt es Gewinner in der Pandemie?“ erschien erstmals am 26. Februar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 88 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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