Nils Müller lebt in Leipzig und arbeitet hier seit einigen Jahren als freischaffender Schriftsteller. Er ist mit seinen Texten auf Lesebühnen und Ausstellungen vertreten, veröffentlichte in diversen Anthologien, betreibt einen eigenen Blog und bespricht für das Web-Magazin „The Leipzig Glocal“ regelmäßig Arbeiten Bildender Künstler/-innen aus Leipzig. Ende des vergangenen Jahres legte er mit „Venusjahr für Fische“ sein Prosa-Debüt vor. In dieser autofiktionalen Erzählung wird der Verlauf einer Alkoholentziehungskur erzählt, die zugleich Anlass für einen Roadtrip nach innen ist. Ich habe mich mit ihm über den Schreibprozess unterhalten.
Lieber Nils! Was hat dich dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben?
Da kam vieles zusammen. Es war zum einen der Versuch einer Selbstheilung, aber auch das Erzählbarmachen von Zeit, das Durcherleben einer Entgiftung, einer Alkoholentwöhnungsbehandlung. Vor allem wollte ich darüber reden. Denn ich finde, dass uns das Reden über die Dinge, die in unserem Inneren passieren, immer mehr abhandenkommt. Gerade bei dem Thema Sucht gibt es so Vieles, das in uns verborgen bleibt, obwohl es heilsam wäre, es auszusprechen.
Zugleich wollte ich den Versuch unternehmen, länger zu schreiben. Ich wollte eine längere Erzählung zustande bringen.
Du hättest ja auch mehrere kürzere Geschichten schreiben können. So ist aber ein Text mit über 250 Seiten entstanden. Eine Erzählung also im wahrsten Sinne; schreiben also, um zu erzählen?
Mir war daher auch eine Chronologie wichtig. Es sollte ein Zeitstrahl entstehen. Aus der Entgiftung, die der Protagonist durchlebt, aus dieser engumschlungenen Zeit mit dem Freund, den er findet und aus der Langzeittherapie im dritten Kapitel.
Damit wollte ich den Leuten vorrangig aber nicht unbedingt zeigen, was in so einer Therapie passiert, sondern viel eher hinter die Kulissen des eigenen Unterbewussten schauen; ergründen, was diese Vorgänge mit mir machen.
Interessant, dass du jetzt von einem Protagonisten aus der dritten Person heraus sprichst, gleichwohl es ja, wie du mir eingangs sagtest, auch eine Erzählung von dir ist, von deinem eigenen Erleben. Wie lotest du das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen, zwischen Autobiographie und Fiktion aus? Geht das überhaupt?
Dieser Text ist wie fast jeder literarische Text autobiographisch. Ich sehe darin nicht mehr Autobiographie als in anderen Erzählungen.
Auch wenn ich unmittelbar in dieser Geschichte drinstecke, so ist es für mich dennoch wichtig, nicht allein mich darin zu sehen, sondern mit der „Du“-Perspektive den Leser soweit reinzuholen, dass er oder sie sich vor Augen hält: In diesen Situationen können wir uns alle wiederfinden; gerade jetzt, wo sich alles immer mehr beschleunigt und damit auch immer mehr auf der Strecke bleibt – vor allem, was die Gefühlsebene angeht.
Das finde ich an diesem Buch auch bemerkenswert, dass es konsequent im „Du“ bleibt. Nie ist von einem „Ich“ oder einem „Wir“ die Rede, sondern es ist trotz des Erzählens immer nach außen an ein Gegenüber gerichtet, eine Ansprache eigentlich.
Zum einen das; aber natürlich auch ein innerer Monolog. Sich etwas selbst erzählen heißt auch, das zu Erzählende in Stücke zu schneiden, um es neu anordnen und vielleicht auch um es aushalten zu können.
Das ist das, was ich selbst erlebt habe. Wenn ich mit mir selbst ins Gericht gehe, dann ist es ganz heilsam, dass ich mir die Situation noch einmal erzähle und dies vielleicht auch noch einmal aus einer anderen Perspektive heraus. Dieser Wechsel des Standpunktes passiert auch dem Protagonisten.
Du sprichst von einem heilsamen Prozess. Die Ereignisse, die in deinem Buch widergespiegelt werden, liegen wie lange schon zurück?
Zwei Jahre. So lange wie der Schreibprozess. Ich habe die Ereignisse quasi tagebuchartig notiert und hatte dann das große Glück, währenddessen meinen Verleger Detlef Plaisier kennenzulernen, der mit mir daraus ein Buch entwickeln wollte.
Dann kam ja noch die Zeit der Postproduktion, des Lektorats, Layouts, Druck etc. … Alles im allen hast du damit ja jetzt einen gewissen Abstand zu dem, was damals passiert ist. Wie fühlt es sich an, deiner realen wie fiktiven Vergangenheit nun noch einmal zu begegnen?
Ich will nicht anmaßend klingen, aber es fühlt sich an wie eine Geburt. Das Buch ist etwas, das mir nun keiner mehr wegnehmen kann. Es ist derart intim und doch etwas, das ich hochhalten, allen zeigen möchte. Darauf bin ich stolz. Oder, um den Pathos zu wagen: Das ist Nils Müller!
Eigentlich hast du dich, der du jetzt bist, mit dem Schreiben selber geboren.
Ich habe mich freigelegt, nicht geboren. Ich bin mir nämlich unsicher, inwiefern mich das Schreiben verändert hat. Die Zeit hat mich natürlich geprägt. Das schon. Ich sehe es aber eher wie eine archäologische Freilegung.
Das Bild der Fossilien kommt im Buch auch recht häufig vor, insbesondere dann im dritten Kapitel.
In den Therapien hat man ja die Chance, wirklich einmal ganz tief in das Unbewusste hineinzugehen und diesen Blick darauf auszuhalten, bis man merkt, dass man das Bild nicht mehr zu fürchten braucht, weil man es jetzt kennt. Für mich hat das wirklich etwas von einer archäologischen Arbeit.
Die Geburt war für mich nur das Gefühl danach. Dies in der Zusammenarbeit mit dem Lektor, in der Zusammenarbeit mit dem Verleger … Dieser Prozess war für mich der eigentliche Geburtsvorgang bis hin zu dem Moment, als das Buch dann zum Verkauf stand. Das ist das Geboren-Haben. Das Geboren-Worden-Sein ist für meine Begriffe schon viel eher passiert.
Eine Bergung also.
Ja.
Du arbeitest in deinem Buch mit zwei Ebenen. Es gibt den chronologischen Textfluss und dann immer wieder Momente, die diesen unterbrechen und die du „Blitzlichter“ nennst. Ich verstehe sie als Assoziationsräume. Haben diese dir in der Freilegung der Schichten geholfen, im Sinne von Zeitlupen, die bestimmte Momente vergrößern oder verlangsamen?
Für mich erfüllen die Blitzlichter eine Art Kommentarfunktion. Sie kommen schnell und dauern nur einen kurzen Augenblick; sie flammen sozusagen auf. Es waren die ersten Gedanken, die mir während des Aufschreibens einer bestimmten Situation kamen. Auch in der Gruppentherapie kommen sie oft zur Anwendung.
Gruppengespräche werden oft mit einem Blitzlicht eröffnet, in der Art von: „Was ist dein momentanes Gefühl?“ Das hilft den Einzelnen, sich hier und jetzt zu verorten und zu benennen, wo man derzeit steht. Das ist wie so ein Markierungsfähnchen in dem Gestein, das man fotografieren wird.
Mit Blick auf heute befändest du dich jetzt ja eigentlich auf einer Lesetour. Wo wärest du gerade?
Die Idee war die, das Buch in Partnerstädte Leipzigs zu bringen. Auf meiner Tour lägen also Frankfurt, Hannover und Krakau. Hierfür hatte ich mich im Frühjahr um ein Stipendium beworben. In Zeiten der Pandemie wäre das natürlich nicht besonders sinnvoll. Pech gehabt!
In Leipzig waren für die Zeit vor Weihnachten Auftritte u. a. bei der Lesebühne „Pinzette vs. Kneifzange“, beim „Lettermantalk“ von Mayjia Gille und beim „Durstigen Pegasus“ geplant, was nun leider auch nicht stattfinden konnte. Aber das ist alles nur verschoben; stattfinden wird es.
Wie gehst du mit der Verschiebung um?
Ich sehe es gelassen. Es ist eben jetzt nicht möglich. Vorranging steht für mich im Vordergrund, niemanden zu gefährden. Die Maßnahmen sind sinnvoll. Und sowieso ist das alles für irgendetwas gut.
Für neue Arbeiten zum Beispiel?
Genau.
Bist du gerade an neuen Sachen dran?
Ja! Das geht jetzt immer so weiter. So schnell werdet ihr mich nicht los.
Woran schreibst du?
Es wird eine Zeitreise; ein Stück Familiengeschichte, zu großen Teilen aber auch ein zeitgeschichtlicher Text. Wenn das „Venusjahr für Fische“ ein Buch des Findens war, ein Buch über das Wieder-Rein-Finden ins Leben und letztlich auch eine Feier des Lebens, so möchte ich in diesem Buch nun eine Geschichte über einen wirklichen guten Menschen in meiner Familie oder vielmehr über die guten Menschen in meiner Familie schreiben.
Ich möchte hier erforschen, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist; was ihn prägt. Aber es sind erst 30 Seiten. Noch kann ich nichts spoilern!
Hab Dank für das Gespräch!
Nils Müller liest aus dem Chanukka-Kapitel aus seinem Buch „Venusjahr für Fische“ (Audio)
Nils Müller: „Venusjahr für Fische“. Erschienen in der edition Kronzeugen. 257 Seiten. 15,00 €
Link zu Nils Müllers Blog: https://kokonmensch.blogspot.com/
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.
Vielen Dank dafür.
Keine Kommentare bisher