Als ein Kind der Neunziger benötigte ich früher, wenn ich das Haus verließ, einen Schlüssel. Dies wurde 1993 notwendig, weil die Wohnblöcke der Altbausiedlung, in der ich aufwuchs, nun neue Hauseingänge erhielten. In den Jahren davor hatte ich das Haus betreten, indem ich einfach die Klinke drückte. Ich ging die Stufen zum dritten Stock der Wohnung hinauf und: trat ein, denn auch diese Tür hatte eine Klinke (und dann einen Drehknauf).

Mit der Umrüstung der Hauseingangstüren war es damit nun vorbei. Ich brauchte also einen Schlüssel – zunächst für das Haus, dann auch für die Wohnung, denn auch diese wurden bald danach umgerüstet. Nun also zwei Schlüssel. Meine Eltern schärften mir ein, gut auf die beiden Schlüssel aufzupassen und meinten, ich sollte sie mit einem Band um den Hals tragen – was ich natürlich nicht tat; ich steckte sie in die Tasche.

Später gehörte zu den notwendigen Dingen neben dem Schlüssel auch Geld – zwei Mark, dann fünf Mark, dann zehn Mark. Um die Jahrtausendwende herum kaufte ich mir mein erstes Handy, ein Trium. Von diesem Tag an bestand die Dreiheit der absolut notwendigen Dinge, die ich bei mir führen würde, wenn ich außer Haus ging, aus: Schlüssel, Portemonnaie, Handy.

Seit letzteres in die Jahre gekommen ist, führe ich zudem öfters auch ein Ladekabel mit mir, als Ersatz für eine Powerbank. Nur wenn ich Joggen gehe, muss der Schlüssel genügen. Und das fühlt sich immer auch etwas seltsam, irgendwie nackt an.

Seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres weitete sich die Dreiheit zu einer Vierheit aus. Wenn ich seither nun außer Haus gehe, ist für mich ganz klar – und längst bin ich hierin genauso eingeübt wie damals, als ich auf meine Schlüssel zu achten hatte –, dass ich nie ohne Schlüssel, Portemonnaie, Handy und Hygienemaske rausgehe.

Mir persönlich verdeutlicht dies einmal mehr die Abhängigkeit des Menschen von den Dingen. Nun mag es zwar einige Menschen geben, die der Meinung sind, es bedürfe seit Frühjahr 2020 keiner Masken. Aber auch sie sind seit Frühjahr 2020 abhängiger von Dingen als je zuvor; wenn auch von ganz anderen Dingen, die hier nicht näher erörtert werden sollen.

Im Rückblick auf das vergangene Jahr stelle ich jedenfalls fest, dass eine Vielzahl von Gegenständen, Stoffen und immateriellen Gütern ins Zentrum unserer Gesellschaft gerückt sind, ohne die unser zwar gedrosseltes, jedoch ja aber immer noch recht reges Leben schlichtweg erlahmen würde.

Ich für mich genommen zähle hierzu auch das Fahrrad. Seit die Inzidenz- und Fallzahlen so derart gestiegen sind und immer mehr Virusmutationen auftreten, vermeide ich die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und nutze im Unterschied zu früheren Wintern mein Fahrrad.

Das ist natürlich nichts im Vergleich zu all den Dingen, die seit dem ersten Lockdown im Allgemeinen zum Standardrepertoire aller Geschäfte, Büros, Restaurants gehören: Handseife, Desinfektionsmittel, Masken, Plexiglasscheiben, Absperrbänder, Trennwände, Einmalhandschuhe und so weiter.

Die Kulturbranche arbeitete aufwendige Hygienekonzepte aus und investierte in Belüftungsanlagen. In der Bildung wurde der dringende Bedarf nach einem Ausbau der digitalen Infrastruktur erkannt, Lehrer/-innen für Homeschooling mit Laptops auszustatten. Die Inanspruchnahme von Essenslieferdiensten und Paketservices stieg rasant und das nicht erst über die Weihnachtsfeiertage.

Ein Blick ins Zentrum des Geschehens, zu den Arztpraxen und Krankenhäusern, führt uns den Mehrbedarf an Dingen deutlich vor Augen. So heißt es in einer Veröffentlichung der Fraunhofer Gesellschaft zu Beginn der Pandemie: „Allein die niedergelassenen Ärzte in Deutschland benötigen angesichts der Corona-Pandemie in den kommenden Monaten 115 Millionen Schutzmasken. […] Dazu kommen fast 47 Millionen FFP2-Masken, Atemschutzmasken mit Filter, 63 Millionen Einmalschutzkittel, 3,7 Millionen Schutzbrillen und mehr als 55 Millionen Packungen Einmalhandschuhe. Noch nicht berücksichtigt ist dabei der Bedarf von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen.“

Was die Zahl der benötigten FFP2-, KN95- und OP-Masken betrifft, so wird mit der bundesweiten Verschärfung der Maskenpflicht im ÖPNV und beim Einkaufen diese Menge exorbitant ansteigen. Dieser Schritt ist vernünftig; er ist aber zugleich ein Schritt hin zu einer noch größeren materiellen Abhängigkeit, schließlich sind diese Masken nur begrenzt wiederverwendbar.

Das Titelblatt der LZ Nr. 87, Ausgabe Januar 2021. Screen LZ
Das Titelblatt der LZ Nr. 87, Ausgabe Januar 2021. Screen LZ

Etwas Abhilfe in diesem Punkt könnte zukünftig eine kompakte Plasma-Dekontaminationsanlage schaffen, welche 2019 unter anderem von der Firma Plasmatreat am Fraunhofer Institut entwickelt wurde und beim Bayrischen Roten Kreuz schon im Probebetrieb läuft: Mithilfe von Plasma können Masken und Schutzanzüge in kühlschrankähnlichen Anlagen innerhalb von 30 Minuten desinfiziert und danach wiederverwendet werden.

Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis die Plasma-Dekontaminationsanlagen flächendeckend zum Einsatz kommen. Dann aber werden sie sicher einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Reduzierung von Müll leisten.

Längst klar ist aber auch, dass das öffentliche Leben nur dann wieder dauerhaft hochgefahren werden kann, wenn die Bevölkerung mit einem weiteren Ding flächendeckend versorgt sein wird: dem Impfstoff. Von kaum etwas anderem werden wir auf längere Sicht derart abhängig sein, wie von der Entwicklung und dem Gebrauch von Impfstoffen, und dies umso mehr, je weniger es der Gesellschaft gelingt, der Pandemie allein über Abstandsregeln, Maskentragen und Ausgehbeschränkungen zu begegnen.

Die Vorstellung am Anfang der Pandemie, der Mensch, zumal hierzulande, könne in den Zeiten des Lockdowns das Nichtstun genießen und wertschätzen lernen, sich von allen Lastern und Lasten lösen und einfach chillen, hat sich längst als romantisch erwiesen. Der Mensch verträgt die Stille nicht.

Man hat sich in die Arbeit geflüchtet, an neuen Projektideen gesponnen, Makramee gelernt, Besprechungen und Kaffeerunden über Zoom abgehalten (was auch heißt: Unsere Kommunikation wurde durch Corona noch dinglicher). Wir haben genetflixt, Online-Yogakurse besucht, Podcasts abonniert, alle verfügbaren Mediatheken durchstöbert, nur um der Langeweile (vergeblich?) zu entfliehen.

Für die Kulturbranche wurde das Produzieren von Streamings, Onlinekonzerten und Zoom-Theaterformaten ein Kampf um die Existenz und: um die Relevanz. Abgesehen davon, dass die finanziellen Einbußen des Shutdowns für viele Institutionen und Künstler/-innen in der Tat existentielle Dimensionen angenommen haben, stellt sich auch die Frage, was es eigentlich über die Aufmerksamkeit und Ausdauer einer Gesellschaft aussagt, wenn eine Branche, die aus der Not heraus für eine Weile pausiert, plötzlich Gefahr läuft, tatsächlich irrelevant, für die Allgemeinheit nicht mehr von Belang zu sein.

Wenn Stillstand (oder Verlangsamung oder bereits gar Konstanz) wirklich gleichbedeutend mit Tod ist, welche Rückschlüsse lassen sich dann auf unser Bewegungsverhalten ziehen?

In Sebastians Hartmanns Online-Inszenierung des „Zauberbergs“ am Deutschen Theater Berlin hat dieser Kampf um die Relevanz des (unproduktiven) Theaters dazu geführt, dass die Kamera integraler Bestandteil des Ensembles wurde.

In wahrscheinlich nicht allzu wenigen Haushalten hat der Kampf gegen die Langeweile dazu geführt, dass sich die Menschen mit noch mehr Dingen ausstatten. Sportartikel wie Balance Boards, Rudergeräte und Boxmaschinen für zu Hause eignen sich hierfür besonders, da sie ja der Erhaltung der Fitness, also einem sinnvollen Zweck dienen.

Wie erleichtert war ich darüber, mir kurz vor dem letzten Lockdown schnell noch ein Tischtennisset gekauft zu haben! Es ist wohl eben so, dass der Mensch, dazu verdammt, mit nur wenigen anderen Menschen oder komplett mit sich allein daheim zu bleiben, der Dinge bedarf, um sich einen Tagesrhythmus zu bewahren, um die Ödnis auszuhalten.

Drastisch ersichtlich wird diese neue Dimension der Abhängigkeit des Menschen von den Dingen bei denen, die all das nicht haben, die durch die Pandemie oder schon zuvor am Existenzminimum leben müssen, bei den Alleinerziehenden und Familien auf engstem Raum ohne Grundstück, Garten oder Balkon, bei den Menschen ohne Obdach, ohne Sicherheit eines Aufenthaltsstatus, bei den vielen tausenden Menschen, die inmitten der Pandemie und inmitten des Winters in undichten unbeheizten Zelten auf Lesbos oder auf bloßem Boden ohne Decken, Strom und fließendem Wasser im bosnischen Lipa um ihr Überleben kämpfen.

Es geht mehr denn je also darum: Die Dinge müssen ernst genommen und gerecht verteilt werden. Die globale Verteilung der Impfstoffe auf alle Länder muss gleichmäßig und unabhängig von deren Wohlstand erfolgen. Wenn in einem der ärmsten Länder der Welt zum heutigen Tag gerade einmal 25 Impfdosen gespritzt wurden, dann kann erstens von einer gerechten Verteilung nicht die Rede sein. Zweitens wird die Menschheit auf diesem Wege nie die Pandemie lösen können.

Die Menschheit, die die Globalisierung unumkehrbar eingeleitet hat, muss lernen (und wird es lernen), global zu denken. Ein erster Schritt sollte dann auch der sein, eine Neubefragung hinsichtlich dessen vorzunehmen, was ein Mensch für seine körperliche wie geistige und emotionale Gesundheit benötigt, was unantastbare Rechte eines jeden einzelnen Menschen sind. Dafür bedarf es einer aufrichtigen Diskussion über unsere Abhängigkeit von den Ressourcen dieses Planeten und damit auch über unsere Abhängigkeit voneinander.

„Masken und Impfstoff: Corona und unsere Abhängigkeit von den Dingen“ erschien erstmals am 29. Januar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 87 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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