Etwa 80 Menschen machten am Nachmittag des heutigen 9. Februar 2021 auf das Schicksal von 91 Flüchtlingen aufmerksam, die auf dem Tag genau vor einem Jahr im Mittelmeer in Seenot gerieten und seither verschollen sind. Bei einer Kundgebung auf dem Augustusplatz wiesen die Veranstalter, ein Bündnis aus dem Aktionsnetzwerk „Alarm Phone“ und der Bewegung „Seebrücke“, auf die Schicksale der Vermissten und ihrer Angehörigen hin. Beide Initiativen fordern ein Ende der tödlichen EU-Grenzpolitik.
Es waren überwiegend junge Männer aus dem Sudan, die am 9. Februar 2020 in Libyen mit einem schwarzen Schlauchboot in See stachen. Ihr Ziel: Malta oder das europäische Festland. Dort kamen sie nie an.
Als die Flüchtlinge das „Alarm Phone“, eine Telefonkontaktstelle für Menschen in Seenot, anriefen, trieben sie hilflos vor Garabulli (Libyen). Das Boot soll bereits unter Wasser gestanden haben und die ersten Menschen über Bord gegangen sein. Dennoch gelang es ihnen, ihre GPS-Koordinaten klar zu kommunizieren.
Die Aktivisten des „Alarm Phone“ informierten umgehend die italienischen und maltesischen Behörden sowie libysche Küstenwache. Eine Stunde später riefen die Hilfesuchenden erneut das „Alarm Phone“ an. Seitdem gelten sie als verschollen.
Die libyschen Küstenwache unternahm laut den Aktivisten keinen Rettungsversuch, da ihre Gefängnisse überbelegt gewesen seien. Es ist ein Schicksal unter vielen, das sinnbildlich für die brutale Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen steht.
ZDF-Satiriker Jan Böhmermann hatte erst am vergangenen Freitag das zweifelhafte Grenzregime der Europäischen Union im Mittelmeer thematisiert.
Um die brisante humanitäre Lage in der Mittelmeer-Region nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, hatten das Alarm Phone und die Leipziger Ortsgruppe der Bewegung „Seebrücke“ ab 16 Uhr zu einer Kundgebung auf dem Augustusplatz aufzurufen, um in Solidarität mit den Angehörigen gegen das „unsichtbare und strukturelle Verschwindenlassen“ der 91 Migranten durch die regionalen Sicherheitsbehörden zu protestieren.
An einer Wäscheleine hatten die Veranstalter Fotos und Namen von 62 der Verschollenen aufgehangen, um ihnen ein Gesicht zu geben. Ihre Hinterbliebenen versammelten sich heute in Al Fasher (Sudan), um ihrer zu gedenken.
Eine Aktivistin verlas Auszüge aus Gesprächen mit den Angehörigen, die für ein Filmprojekt aufgezeichnet worden waren. „Ich vermisse meinen Sohn seit Februar 2020“, berichtet beispielsweise ein Vater aus Nord-Dafur. Er sei über das Meer nach Tripolis gereist. „Seither haben wir nichts mehr von ihm über ihn gehört.“
Aufgrund von Kriegen und unsicherer politischer Lage hätten sich die Jugendlichen auf den Weg nach Europa gemacht. Eine Schwester erzählt, ihr Bruder Mohammed sei am 8. Februar zusammen mit einer Gruppe nach Libyen gereist und seitdem verschwunden.
„Ich möchte, dass die Behörden, internationale Organisationen und Flüchtlingsorganisationen so schnell wie möglich mit der Suche nach ihm beginnen.“
Impressionen und Redebeiträge vom 9. Februar 2021 auf dem Augustusplatz
Video: LZ
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