Während sich – angesichts der aktuellen Lage in den USA – ein Großteil der Medien in politischer Ereignisgeschichte im Stile des 19. Jahrhunderts ergeht („große“ Männer, „große“ (Un-)Taten) und mittels aufgeblähter Singularitäten von der langweiligen Perspektive ablenkt („Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten muss sich ein Präsident einem zweiten Amtsenthebungsverfahren stellen“), interessieren mich weiter die randständigen Dinge, die Verwerfungen im Detail, die kleinen Gegenströmungen im großen Malstrom der Geschichte.
Differentialdiagnose nennen das die Mediziner – und nutzen diese Herangehensweise, um die Krankheit eines Patienten möglichst genau zu bestimmen, das heißt: sie von anderen Krankheiten abgrenzen zu können, die ähnliche Merkmale haben. Im Grunde ein Ausschlussverfahren. Was mich zum Thema bringt, denn das Weiße Haus hat vorgestern zwei seiner Mitarbeiter gefeuert.Eigentlich war es üblich geworden, angesichts des gestürmten Kapitols von allein das Handtuch zu werfen, aber die Geschichte hier läuft anders. Und sie hat auch nichts mit den Kapitolkloppereien irgendwelcher Knallköppe zu tun. Von der großen Gefahr, die überall propagiert wird („Ständige Bewachung: Nationalgardisten schlafen auf dem Boden im Kapitol.“ „Washington wird zur Festung“.) im Schatten der Ereignisgeschichte jedenfalls keine Spur. Im Gegenteil. Hier geht’s nicht um 20.000 Reservisten, sondern um die letzte Reserve. Das heißt: um zwei Mann. Ihre Namen: David Legates und Ryan Maue.
Die beiden sind von der Trump-Regierung in Position gebracht worden und besetzen zwei wichtige Stellen in der Nationalen Wetter- und Ozeanografiebehörde, Maue sogar die des Chefwissenschaftlers. Im November waren sie ins Amt für Wissenschafts- und Technologiepolitik abgeordnet worden, eine Regierungsabteilung, die zum Exekutivbüro des Präsidenten gehört. Chef der Behörde ist ein Mann namens Droegemeier, der mit Vornamen Kelvin heißt und – der Name ist Programm – gelernter Wetterfrosch ist.
Droegemeier selbst gilt als nüchterner Wissenschaftler, der nicht nur unter Klimaforschern, sondern auch bei Umweltaktivisten einiges Ansehen genießt, was einer der Gründe sein könnte, warum ihn Dyslexic Donald kaum jemals zurate gezogen hat. Aber wie dem auch sei, Droegemeier, der sich jahrzehntelang mit Wirbelstürmen und extremen Wetterumschwüngen beschäftigt hat und deshalb für den Posten im Weißen Haus bestens geeignet ist, hat jedenfalls die Herren Legates und Maue an seine Seite bekommen – und die sind ausgewiesene Skeptiker des menschengemachten Klimawandels.
Also haben die beiden angefangen, ein paar Papiere zu schreiben, in denen sie „den Stand der Forschung zu verschiedenen Themen der Klimaforschung“ darlegen. Oder besser gesagt: das, was sie für den Stand der Forschung halten. Ob es wirklich eine globale Erwärmung gibt, ist für die beiden jedenfalls größtenteils eine Frage des Glaubens, zumal die Computermodelle, mit denen der Klimawandel berechnet wird, ihrer Ansicht nach zu klein und die Rechner zu schwach sind, um irgendeine sinnvolle Vorhersage zustande zu bringen.
Ihrem Chef, Droegemeier, hatten sie davon natürlich nichts erzählt, sondern die Papiere – mit dem Logo des Exekutivbüro des Präsidenten versehen – online gestellt. Die Sache sah also höchst offiziell aus und trug auch den Copyright-Vermerk des Amts für Wissenschafts- und Technologiepolitik. Um nicht aufzufliegen, haben die beiden ihre Papers auf privaten Webseiten veröffentlicht und nicht auf denen ihrer Behörde.
Vielleicht haben sie es auch getan, um viele Leute zu erreichen, denn wer liest schon die Papers, die auf irgendwelchen Behördenwebseiten rumdümpeln. Ich weiß es nicht. Sicher ist nur, dass die Sache rausgekommen ist, was zu erwarten war, und ihr Chef nicht in Jubel ausgebrochen ist, als er davon erfahren hat, was ebenfalls zu erwarten war. („Dr. Droegemeier war außer sich, als er von Materialien erfuhr, von der die Leitung nichts wusste und die auch nicht von ihr genehmigt worden sind.“) Also hat er die beiden rausgeschmissen. Lokales Kaltstellen gegen globales Erwärmen, sozusagen.
Wobei das nicht die einzige Säuberungsaktion war, denn auch die Umweltschutzbehörde EPA hat mal wieder reinegemacht. Normalerweise tut sie das auf eine Art und Weise, die Umweltschützern die Haare unter den Achseln strammstehen lässt, aber in diesem Fall hat sich die EPA tatsächlich mal nicht als Umweltschmutz-, sondern als Umweltschutzbehörde gezeigt, denn sie hat der Beseitigung sogenannter Superfund-Flächen höchste Priorität eingeräumt. Und zwar schon seit Jahren.
Mit „Supferfunds“ sind in diesem Falle ausnahmsweise mal keine Wahlkampfkassen voller dreckiger Dollars gemeint, sondern ein Programm zur Beseitigung dreckiger Landschaften. Das dazugehörige Gesetz nennt sich offiziell Comprehensive Environmental Response, Compensation and Liability Act, aber weil die Menschen in den USA genauso wenig Amtsamerikanisch verstehen wie unsereins Behördendeutsch, nennen sie es das Superfund-Programm, was den Vorteil hat, dass es nach Superman und nicht nach Sesselfurzer klingt.
Konkret kümmert sich das Programm um jene Flächen, auf denen gefährliche Abfälle lagern. Giftmüll, würde der von allen Differentialdiagnosen befreite Volksmund dazu sagen. Die Flächen werden in der Regel nicht mehr bewirtschaftet, allerdings ist in diesem Falle „ökonomisch inaktiv“ mit „ökologisch aktiv“ zu übersetzen, denn die Flächen verseuchen nicht selten das Grundwasser und die Böden. Und gelegentlich auch die Luft.
Mehr als eine Milliarde Dollar hat die EPA allein 2020 für die Sanierung ausgegeben. Wie üblich muss der Steuerzahler die Reinigungsaktionen bezahlen, denn die Gesetzesvorschläge der Demokraten, die eine rückwirkende Verursacherhaftung vorsahen, waren Mitte der 1990er Jahre am Widerstand einiger Republikaner gescheitert, woraufhin der Anteil der Steuermittel an den Sanierungskosten zu steigen begann, und zwar so lange, bis er irgendwann 100 % erreicht hatte.
Parallel dazu sank die Zahl der bereinigten Flächen, und erreichte 2014 unter der Obama-Regierung mit nur acht Sanierungen einen Tiefstand. (Was die Behörde allerdings nicht davon abhielt, das Titelblatt ihres Berichts mit einem Bild von Superman zu versehen, dazu die Worte: „Put the ,super‘ back in ,Superfund.‘“ Wie viele das super fanden, ist leider nicht überliefert.)
Angesichts der damals existierenden 1.200 Giftmüllhalden war das nicht gerade viel. Und obwohl die Zahl inzwischen weiter gewachsen ist, hat sich die Gesamtsituation unter der Trump-Regierung – man mag’s kaum glauben – verbessert. Und zwar schon mit dem Amtsantritt von Scott Pruitt, der sonst eigentlich dafür bekannt war, sich einen Scheißdreck um Umweltschutzbelange zu kümmern.
Aber die Drecksdeponien hatten es ihm irgendwie angetan. Vielleicht weil der Giftmüll konkreter war als die abstrakten Klimamodelle der Wissenschaftler, und weil man da auch die Fortschritte besser sah als in dem Meer aus Umweltgutachten und Studien, das die Menschheit Tag für Tag produziert. (Kleine Anmerkung für die späteren Ereignishistoriker: Die Analyse der Trump-Administration im Allgemeinen und der EPA im Besonderen sollte diese aufs Praktisch-Konkrete gerichtete Denkweise als handlungsleitendes Dispositiv in Betracht ziehen.)
Scott Pruitt und sein Nachfolger Andrew Wheeler haben jedenfalls bei der Giftmüllbeseitigung einiges erreicht und nicht nur die Zahl der Sanierungen erhöht, sondern – mithilfe ihrer hemdsärmligen Geschäftsmännigkeit – hier und da die Verursacher auch dazu gebracht, ein paar Millionen lockerzumachen.
Allerdings hat das Extra-Geld nur im Einzelfall etwas bewirkt, denn im Großen und Ganzen ist das Budget für die Sanierungsmaßnahmen – genau wie das für die EPA – unter Trump deutlich gekürzt worden. Und dagegen haben sich weder Pruitt noch Wheeler besonders gewehrt.
Was ein Problem ist, denn die Sanierung der Giftmülldeponien muss möglichst schnell vorangehen, da über die Hälfte der Superfund-Sites in Gebieten liegt, die von Buschfeuern, Fluten und anderen Ergebnissen des Klimawandels bedroht sind. Zwar hat die EPA einige Schutzmaßnahmen ergriffen, aber angesichts der Herausforderungen des Klimawandels ist das nur der berühmte Tropfen auf dem immer heißer werdenden Stein.
Was mich zu den beiden Jungs mit den Papieren zurückbringt. Denn die haben im Grunde nur das gemacht, was die Trump-Regierung unabhängig einiger Erfolge im Umweltschutz-Bereich, die sie (trotzdem) erzielt hat, die ganze Zeit über getan hat, nämlich den menschengemachten Klimawandel nicht anzuerkennen. Und die EPA war ganz vorn mit dabei. In ihrem Strategieplan für die Jahre 2018–2022 kommt das Wort „Klimawandel“ nicht ein einziges Mal vor. Pruitt hatte es rausstreichen lassen.
Ereignisgeschichte als fortwährende Geschichte von Säuberungsaktionen. Darüber ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Und das wäre auch nötig. Gerade in Zeiten wie diesen, die ebenso politisch korrekt wie populistisch korrupt sind (wahrscheinlich hängt das zusammen). Es sind Zeiten, in denen vielen Menschen die Welt gar nicht sauber genug sein kann. Links wie rechts. In Deutschland wie in Amerika. Und das Virus hat damit – auch wenn es so aussieht – nicht das Geringste zu tun.
Es wäre also am besten, man würde das Buch zweispaltig anlegen. Eine Art Parallelgeschichte. In der einen Spalte die politischen Säuberungsaktionen und in der anderen die sprachlichen. Das eine findet rechts statt, das andere links. Oder umgekehrt. Das kommt auf die Geschichte an. (Jahreszahlen am Rande erleichtern die Orientierung.) Der Inhalt der Spalten kann auch wechseln.
Muss er sogar, wenn man der Geschichte wirklich zu folgen versucht. Politische Säuberung links, sprachliche Säuberung rechts. Und dann wieder zurück. Wobei eine Ideologie auch mal beide Spalten einnehmen kann. Geschichten über Säuberungsaktionen waren schon immer die dreckigsten. Sie handeln von Saubermännern, nicht von Reinemachfrauen. Andersrum wäre mir tausendmal lieber. Aber ich fürchte, dazu wird es nicht kommen. Auf dem großen Putzplan der Gegenwart wird der Zeiger unablässig weitergedreht.
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
Das „Tagebuch eines Hilflosen“ als Buch ab Frühjahr im Verlag Matthes & Seitz.
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