Es braucht manchmal eine Weile. Und dann staunt man: Na holla, jetzt fangen sogar โ€žSpiegelโ€œ und โ€žZeitโ€œ an, diese renitenten Sachsen zu verteidigen. Vor Weihnachten sah das alles noch anders aus: Da sprangen die groรŸen Gazetten alle freudig auf die These an, die hohen Corona-Fallzahlen in Sachsen hรคtten etwas mit der AfD zu tun. Weil: Die sind ja da besonders hoch, wo auch die AfD-Wahlergebnisse hoch waren. Manchmal blenden einen falsche Korrelationen.

Worauf wir damals schon hinwiesen, wohl wissend, dass sich nicht nur die hohe Politik, sondern auch die hohen Medien schwertun damit zu begreifen, was Demografie eigentlich bedeutet und welche faktischen Folgen sie fรผr ganz alltรคgliche Dinge hat. Zum Beispiel den โ€“ berechtigten โ€“ Unmut, der zu hohen AfD-Wahlergebnissen in Sachsen gefรผhrt hat. Worรผber wir schon Berge von Artikeln geschrieben haben, die belegten, wie sehr ganz konkrete materielle, infrastrukturelle und soziale Verhรคltnisse das Denken und Fรผhlen von Menschen beeinflussen.

Und wie das dauerhafte Gefรผhl, abgehรคngt und abgeschrieben und nicht gefragt zu sein, zu Frustrations-Wahlentscheidungen fรผhrt. Und zwar nicht in der positiven Variante, dass man jetzt mal wirklich die soziale Alternative wรคhlt, sondern lieber die ganz harte ร„rgervariante. Motto: โ€žDenen zeigen wir es jetzt mal.โ€œ Was auch mit Sozialisierungen und Ohnmachtserfahrungen in frรผheren Jahren zu tun hat.

Vergangenheit ist niemals โ€žerledigtโ€œ. Wie oft werde ich das hier noch schreiben?

Und Demografie hat knallharte Folgen. Auch wieder Enttรคuschungsfolgen, denn wie verwandelt sich eine Region eigentlich, wenn auf einmal die Kinder und jungen Familien verschwinden?

Antworten liegen in Sachsen รผberall zum Beschauen vor.

Und dass Sachsen auch deswegen besonders gefรคhrdet war, was das Umsichgreifen der Pandemie betrifft, wurde spรคtestens ab Oktober fรผr alle sichtbar. Und der โ€žSpiegelโ€œ hat es nun auch festgestellt: โ€žDie Menschen in Sachsen sind รคlter, ein Sachse ist im Schnitt 46,6 Jahre alt โ€“ mehr als ein Jahr รคlter als der Bundesdurchschnittโ€œ, schreibt Julia Kรถppe.

โ€žGerade in lรคndlichen Regionen sind die Menschen viel unterwegs, weil sie zur Arbeit mรผssen, die Kinder zur Schule bringen. ,Darรผber hinaus scheinen gerade im lรคndlichen Raum sehr enge familiรคre und freundschaftliche Beziehungen eine Rolle zu spielenโ€˜, schreibt Sachsens Sozialministerium auf โ€žSpiegelโ€œ-Anfrage. Vor den Einschrรคnkungen habe es zahlreiche Familienfeiern gegeben. ร„hnliches berichtete auch Frank Vogel, Landrat im Erzgebirgskreis. Zu Beginn der zweiten Welle hรคtte jeder positiv Getestete noch 35 Kontakte angegeben, sagte Vogel dem MDR. Mittlerweile seien es nur noch fรผnf.โ€œ

Da war aber der รœbergriff auf viele Pflegeheime gar nicht mehr zu verhindern. Schon gar nicht, weil man das Pflegepersonal (das oft รผber die Grenze aus Polen und Tschechien kommt, weil heimisches gar nicht mehr verfรผgbar ist) nicht einfach unter Arrest stellen konnte.

Die Folge: Ein Effekt, der das hochbetagte Sachsen besonders heftig traf. Worรผber z. B. die โ€žZeitโ€œ schreibt in ihrem Beitrag รผber einen Krematoriumsbesuch in MeiรŸen: โ€žWenn jede Hilfe zu spรคt kommtโ€œ.

Wobei das Wichtigste darin gar nicht erwรคhnt wird, auch wenn die beiden Autor/-innen den Betreiber des Krematoriums zu Recht einmal richtig fluchen lassen รผber die Leute, die Corona immer noch nicht ernst nehmen.

Das Wichtigste ist das Schweigen. Denn die Menschen, die ja schon deshalb, weil sie zu Hause nicht mehr von der Familie versorgt werden kรถnnen (und oft auch gar keine nรคheren Angehรถrigen mehr haben), haben keine Stimme in unserem groรŸen Geschnatter. Sie erkranken ungesehen, meist ist nur noch das Pflegepersonal da, wenn sie ins Krankenhaus mรผssen. Ein Abschied, der eigentlich gar keiner ist. Und dann steht auf den Sรคrgen dieser im Schnitt 85-Jรคhrigen als Warnung โ€žCoronaโ€œ. Sozusagen ihr letztes Wort.

Aber weil sie die Hauptbetroffenen sind, ist das Ergebnis: Gerade jene, die am gefรคhrdetsten sind, haben keine Stimme. Sie sterben still. Und sie haben auch keinen Einfluss auf all die Diskussionen um Verschรคrfung oder Lockerung des Lockdowns. Auch die Pflegerinnen und Pfleger, die das Drama live erlebten, hatten nichts mitzureden.

Reden wir also nicht mehr รผber โ€žsystemrelevante Berufeโ€œ. Im Ernstfall werden sie ja doch nicht um ihre Meinung gefragt.

In gewisser Weise gestaunt haben dann natรผrlich auch die Statistiker, die dann zum Jahresende fรผr Deutschland eine 23 Prozent erhรถhte Sterblichkeit feststellten gegenรผber dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Was dann die viel diskutierte โ€žรœbersterblichkeitโ€œ ergibt, die relativ deutlich zeigt, welchen zusรคtzlichen Effekt Covid-19 auf die Sterberate hat.

Mit den Worten des Bundesamtes fรผr Statistik: โ€žNach vorlรคufigen Ergebnissen sind in der 50. Kalenderwoche (7. bis 13. Dezember 2020) in Deutschland mindestens 22.897 Menschen gestorben. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, liegen die Sterbefallzahlen somit in diesem Zeitraum etwa 23 % oder 4.289 Fรคlle รผber dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Dies geht aus einer Sonderauswertung der vorlรคufigen Sterbefallzahlen hervor, die aktuell bis zur 50. Kalenderwoche zur Verfรผgung steht.โ€œ

Und dort sah man sich am 8. Januar bei der Gelegenheit auch angeregt, die Entwicklung in Sachsen besonders unter die Lupe zu nehmen: โ€žBesonders auffรคllig ist die Entwicklung der Sterbefallzahlen weiterhin in Sachsen. Die Differenz zum Durchschnitt der vier Vorjahre nimmt dort seit Oktober von Woche zu Woche deutlich zu. In der 41. Kalenderwoche (5. bis 11. Oktober 2020) lag die Zahl der Sterbefรคlle noch unter dem Durchschnitt; in der 50. Kalenderwoche lag sie 88 % beziehungsweise 970 Fรคlle darรผber. Auch in Brandenburg (+34 % oder 211 Fรคlle) und Thรผringen (+35 % oder 204 Fรคlle) lag die Differenz zum Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 zuletzt mindestens 30 % darรผber.โ€œ

Wir haben im Dezember bei unserer Analyse die Karte mit den Altersquotienten auf Kreisebene in Deutschland von 2017 mit dazu gepackt. Sie zeigt ziemlich deutlich, wo die Regionen mit dem hรถchsten Anteil sehr alter Bevรถlkerung sind und wo man eigentlich viel eher und strenger hรคtte vorsorgen mรผssen.

Aber wir haben es ja erlebt โ€“ und Ministerprรคsident Michael Kretschmer hat sich ja inzwischen sogar regelrecht entschuldigt dafรผr, dass Sachsen noch im Oktober lieber fรผr mehr Lockerungen plรคdierte, weil die Stimmen derer, die die Corona-MaรŸnahmen als Zumutung empfanden, einfach lauter und auch in den Medien รผberall gegenwรคrtig waren. Wรคhrend die, die von Anfang an am gefรคhrdetsten waren, auch von Anfang an keine Stimme hatten.

Aber das kann man jetzt nur noch konstatieren, da die Pflegeheime reihenweise von Corona erfasst wurden. Und der Bericht des Bundesamtes fรผr Statistik bezieht sich ja nur aufs Jahresende. Das Sterben geht ja erst einmal weiter, die Infektionszahlen sind durch den Lockdown noch lange nicht gedrรผckt worden.

Offiziell sind nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Sachsen bis zum Wochenende 4.064 Menschen an Covid-19 gestorben.

Eine Zahl die natรผrlich zur รœbersterblichkeit im Kontrast steht. Was in diesem Fall auch nahelegt, dass rund 3.000 Menschen auch ohne Covid-19 gestorben wรคren. Vielleicht sanfter, vielleicht nicht so still und ohne Abschied durch die Angehรถrigen. Und nicht so ohne Trauerfeier im Krematorium. Diese Stille macht schon betroffen. Mich jedenfalls.

Die Serie โ€žNachdenken รผber โ€ฆโ€œ

Warum die sรคchsischen Corona-Probleme mehr mit einer fatalen demografischen Entwicklung zu tun haben als mit der AfD

Warum die sรคchsischen Corona-Probleme mehr mit einer fatalen demografischen Entwicklung zu tun haben als mit der AfD

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