Die Angst, so heißt es, ist das Gefängnis des Geistes. In Corona-Zeiten trifft das besonders zu. Noch kann die Pandemie kein eigenständiges Kapitel in den Angstgeschichten der einzelnen Staaten vorweisen. Aber die Historiker arbeiten daran. Es dürften – im wahrsten Sinne des Wortes – furiose Geschichten werden.

Die ersten An- und Aufsätze lassen freilich vermuten, dass sie die übliche Top-Down-Geschichte erzählen. Im Grunde die Entsprechung des politischen Modus Operandi auf der Ebene der Historiografie. Aber warum auch nicht? Mit einer von der Obrigkeit verordneten Sorge kann man in Deutschland (angeblich) noch immer die beste Politik machen.

Die Zustimmungswerte eines Repräsentanten lassen sich als Gradmesser für die Angst und Affirmation jenes Teils des Volkes lesen, das er vertritt. Oder sagen wir besser: das sich von ihm vertreten fühlt. Denn wer weiß, ob die Lücke zwischen geglaubtem Repräsentationsanspruch und erlebter Vertretung momentan nicht besonders groß ist.

Aber gut, die Dinge mögen aktuell liegen wie sie wollen, fest steht, dass die weitgehende Obrigkeitshörigkeit hierzulande historische Gründe hat. Ihre Gegenbewegungen allerdings auch. Für die Geschichtsschreiber scheint die Sache jedenfalls klar zu sein. So klar, dass sie Corona schon jetzt im Rückblick der Zukunft aufs Heute zu betrachten vermögen: „In der Pandemie konstituierte sich die bundesdeutsche Gesellschaft als Angstgemeinschaft“, schrieb der Historiker Frank Biess bereits im August in einem Aufsatz, den er für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst hat.

Man mag das als die übliche Erledigungsperspektive der Historiografen ansehen. Vielleicht ist es aber auch die Angst des Geschichtsschreibers vor den Löchern, die die Gegenwart jeden Tag vor uns aufreißt. Aber wie dem auch sei: Die Geschichten sind geplant – und sie werden geschrieben.

Und auch das handelnde Personal steht bereits weitgehend fest: Es werden Erzählungen von Politikern und Virologen sein, in denen noch eine Reihe von Ärzten und vielleicht sogar ein paar Pfleger vorkommen, dazu noch diverse Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Geschäftsleute und – für die Quote und das gute Gewissen – noch ein, zwei Kulturschaffende. Natürlich wird es auch ein paar Statistiken geben. Sie sind schließlich der Ort, an dem Otto-Normalverbraucher sein Profil gewinnt.

Gefängnisinsassen, so steht zu vermuten, werden dagegen in den Angstgeschichten nirgends auftauchen. Dabei haben diese Menschen allen Grund, sich zu fürchten. In den Haftanstalten ist das Ansteckungsrisiko schließlich besonders hoch. Aber Angstgeschichten werden in Freiheit geschrieben. Und von der handeln sie im Grunde auch. Was hinter Gittern passiert, scheint dagegen kein legitimer Teil der Dramaturgie zu sein. In den großen, nationalen Meistererzählungen kommen Gefängnisse kaum vor.

Auch in der überaus lesenswerten Angstgeschichte der Bundesrepublik, die Biess 2019 veröffentlicht hat, spielen Haftanstalten keine Rolle. Die wenigen Erwähnungen haben – wenn überhaupt – bloß subjektiv-anekdotischen Charakter. Dass es in neueren Studien anders zugehen wird, ist nicht zu erwarten. Daran wird auch Corona nichts ändern. Wie auch? In Deutschland wird die Zahl derjenigen, die sich in einer JVA infizieren, noch nicht mal zentral erfasst.

In den USA sieht die Sache dagegen anders aus. Dort gibt es ausreichend Daten – und die zeichnen ein erschreckendes Bild. Es ein wenig zu umreißen, wird die heutige Aufgabe sein. Sie beginnt mit ein paar einfachen Zahlen.

Aktuell sind in den USA rund 2,3 Millionen Menschen inhaftiert, wobei die Differenzierung nach staatlichen, bundesstaatlichen und lokalen Gefängnissen in diesem Falle nicht weiter wichtig ist und auch die Rolle von Haftanstalten, die von privaten Sicherheitsfirmen betrieben werden, mit Blick auf Corona nicht näher beleuchtet werden kann. Worum es mir geht, sind ein paar generelle Aspekte von Vergitterung und Virologie.

Allerdings darf man sich die 2,3 Millionen Häftlinge nicht als ein „stehendes Heer“ denken. Wäre man gezwungen, ein Bild zu bemühen, so müsste man sich wohl eher einen großen See vorstellen, der einen beständigen Ab- und Zufluss aufweist. Denn Fakt ist, dass die USA jährlich 10,7 Millionen Verhaftungen verzeichnen. Dazu zählen verurteilte Verbrecher ebenso wie Untersuchungshäftlinge, die zwei Drittel der Fälle ausmachen, und all jene, die – aus welchen Gründen auch immer – nur für wenige Stunden oder Tage in Polizeigewahrsam sind. Alle zusammen addieren sich auf 10,7 Millionen. Umgerechnet macht das eine Verhaftung alle drei Sekunden. Tag und Nacht. Das ganze Jahr über.

Viele der Verhafteten bleiben nur kurz hinter Gittern, kommen auf Kaution wieder frei oder werden zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die durchschnittliche Verweildauer in den USA beträgt gerade mal 25 Tage. Und genau da liegt angesichts von Corona auch das Problem, oder sagen wir besser: die Gefahr, denn obwohl man beim Wort Gefängnis an einen hermetisch abgeriegelten Raum denkt, wirken die amerikanischen Gefängnisse in Wahrheit wie riesige Drehtüren, durch die das Virus permanent rein- und rausgespült wird.

Die Folge: über 225.000 Häftlinge haben sich in den USA bereits infiziert. Dazu kommen noch mehr als 55.000 Covid-19-Fälle beim Anstaltspersonal, das dem Teufelskreislauf ebenso wenig zu entfliehen vermag. Rund 1.600 Gefängnisinsassen sind bisher an oder mit dem Virus gestorben, und auch bei den Vollzugsbeamten sind es bereits mehr als einhundert. Tendenz weiter stark steigend. Aktuell verzeichnen die amerikanischen Haftanstalten wöchentlich 10.000 bis 15.000 neue Corona-Fälle.

Das hat zum Teil dramatische Auswirkungen. In manchen Gefängnissen ist inzwischen derart viel Wachpersonal krank oder in Quarantäne, dass Sozialarbeiter, Psychologen, Krankenschwestern und sogar Anstaltsbibliothekare die Arbeit der Vollzugsbeamten übernehmen müssen.

Dennoch: die eigentlichen Probleme liegen nicht innerhalb, sondern außerhalb der Gefängnismauern. Und die waren schon lange vor Corona wirksam. Es sind die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten der „Draußenwelt“, die die Pandemie in den Haftanstalten permanent weiter anheizen.

Denn Fakt ist, dass überdurchschnittlich viele, die ins Gefängnis wandern oder von der Polizei in Gewahrsam genommen werden, zu einer der zahlreichen Risikogruppen gehören. Vereinfacht gesagt: Diejenigen, die verhaftet werden, sind überdurchschnittlich arm, überdurchschnittlich alt, und ihr Gesundheitszustand ist überdurchschnittlich schlecht.

Hinzu kommt, dass viele der (Neu-)Inhaftierten zur Gruppe der Afroamerikaner gehören, und bei denen sind die Ansteckungszahlen besonders hoch. Das hat vor allem mit ihrer teilweise katastrophalen wirtschaftlichen Lage, einer oftmals problematischen Wohnsituation und der medizinischen Unterversorgung zu tun, wobei auch habituelle und kulturelle Gründe nicht zu vernachlässigen sind.

Covid-19 wurde anfangs als „weißes Virus“ betrachtet, weil in den ersten Wochen viele der Infizierten weiß waren. Sie hatten sich das Virus auf ihren Auslandsreisen geholt und es in die USA mitgebracht. Dort aber ist Corona dann ganz schnell zu einem „schwarzen Virus“ geworden.

Der Zahl der Afroamerikaner, die an oder mit Covid-19 sterben, liegt aktuell bei rund 114 Menschen pro 100.000 Einwohner und ist damit fast doppelt so hoch wie bei Weißen, wo knapp 62 Todesfälle pro 100.000 Einwohner registriert werden. Am geringsten ist die Mortalitätsrate übrigens bei den Asian-Americans. In dieser Gruppe sterben „nur“ 47 von 100.000 Menschen. Auch das hat soziale, ökonomische und kulturelle Gründe.

Aber zurück in die Gefängnisse, die schon seit langem überdurchschnittlich häufig von Afroamerikanern gefüllt werden. Einem Bevölkerungsanteil von 13 % steht ein Häftlingsanteil von 35 % gegenüber. Dazu tragen allerdings nicht nur die Gerichte bei, die Afroamerikaner im Vergleich zu anderen Gruppen deutlich härter bestrafen und ihnen auch weniger Chancen auf Bewährung geben, sondern auch die Polizei, die nach wie vor ein ausgedehntes Racial Profiling betreibt und im Straßenverkehr Afroamerikaner signifikant häufiger anhält als Mitglieder anderer ethnischer Gruppen und sie auch deutlich häufiger durchsucht. Das alles füllt die Gefängnisse weiter.

Kein Wunder, dass die Infektionszahlen in vielen Haftanstalten geradezu explodieren. In den vergangenen Monaten hat sich das Virus derart schnell verbreitet, dass inzwischen 40 der 50 größten Corona-Ausbrüche in den USA auf Gefängnisse zurückzuführen sind. Die Top 5 dieser traurigen Liste ist sogar ausschließlich mit Haftanstalten belegt. Das Risiko, sich hinter Gittern zu infizieren, ist fast sechs Mal höher als außerhalb der Gefängnismauern, und die Sterberate übertrifft die „draußen“ um das Dreifache.

Das liegt allerdings nicht nur an der räumlichen Enge in den Haftanstalten und der teilweisen Überbelegung, sondern auch daran, dass es lange Zeit – und zum Teil noch immer – viel zu wenig medizinische Kontroll- und Testmöglichkeiten gab. Dazu kommt der in den amerikanischen Haftanstalten weit verbreitete Drogenkonsum und die Tatsache, dass sich manch einer zwischen all den schweren Jungs keine Blöße geben will und die Sache auf die leichte Schulter nimmt. Ist ja nur ein kleines Virus, da gilt es zu schweigen und Stärke zu zeigen, schließlich hat man(n) schon ganz anderes durchgemacht.

Die Situation inhaftierter Frauen wird bei alledem oft vergessen. Täter sind im öffentlichen Bewusstsein noch immer vorrangig männlich – und so sehr das in absoluten Zahlen auch stimmt, so falsch ist es unter einem relationalen Gesichtspunkt. In den USA, wo aktuell über 220.000 Frauen in Haft sind, ist die Zahl der weiblichen Häftlinge seit 1980 um über 700 % gestiegen.

Damit ist die Steigerungsrate fast doppelt so hoch wie bei den Männern. Das wirkt sich auch auf die Coronazahlen aus. In Florida haben sich im Sommer in einem Frauengefängnis mehr als 1.000 weibliche Häftlinge infiziert, während in einer Haftanstalt in Oklahoma über 700 Frauen positiv auf das Virus getestet wurden.

Wissenschaftler und Bürgerrechtsgruppen plädieren deshalb schon seit Beginn der Pandemie für eine Absenkung der Häftlingszahlen, für weniger U-Haft und dafür, minder schwere Vergehen möglichst mit Bewährungsstrafen zu ahnden. Allerdings ist bisher nur eine Handvoll Bundesstaaten diesem Ansinnen gefolgt. Zwar saßen im Juni schätzungsweise 200.000 Personen weniger hinter Gittern als noch im März, doch haben Afroamerikaner kaum von den Entlassungen profitiert.

Im Gegenteil. Ihr Anteil am Millionenheer der Häftlinge ist während der Pandemie weiter gewachsen. Die bisherigen Schutzmaßnahmen haben auch aus diesem Grund bisher nur wenig Wirkung gezeigt, zumal die Millionen Ein- und Abgänge in den Polizeistationen und Gefängnissen den großen Virenstrom unablässig am Leben erhalten.

Angesichts der Dimension des Problems bräuchte es eigentlich einen nationalen Notfallplan, der das Problem an der Wurzel anpackt. Aber von der Trump-Regierung ist Derartiges nicht zu erwarten. Zwar rangieren die Vollzugsbeamten in der von der Gesundheitsbehörde aufgestellten Prioritätenliste bei den Impfungen weit oben. Die Häftlinge können dagegen kaum eine zügige Immunisierung erwarten. Nur sechs von fünfzig Bundesstaaten planen aktuell ein beschleunigtes Impfprogramm für Inhaftierte.

Und Trump? Der hat zu alledem nichts zu sagen. Über Gefängnisse redet er ohnehin nur, wenn er sich über die politische Linke ereifert, die in seinen Augen sämtliche Haftanstalten abschaffen will. Dass diese Lesart an der Realität weit vorbeigeht, steht auf einem anderen Blatt, ebenso wie die Tatsache, dass Teile der Linken mit ihrer „Defund the police“-Blökerei dazu beigetragen haben, eine solch verquere Sicht auf die Dinge zu fördern.

Trump jedenfalls interessieren die vielen Infizierten in den Gefängnissen nicht die Bohne. Er ist ohnehin mehr an Hinrichtungen als an Heilungen interessiert. Setzt er seine aktuellen Pläne in die Tat um, werden in den amerikanischen Bundesgefängnissen bis zum Amtsantritt von Joe Biden noch genug Todesurteile vollstreckt, um der Trump-Administration Platz 1 in den Rekordbüchern mit den meisten Exekutionen zu sichern.

Auf der anderen Seite derselben Medaille gibt Trump derweil den gutmütigen Begnadigungs-Onkel. Natürlich nur für seine eigenen Leute, wie etwa Roger Stone, seinen langjährigen Berater und Wahlkampfstrategen, der im Februar diesen Jahres von einem US-Gericht wegen einer Vielzahl an Vergehen zu 40 Monaten Haft verknackt worden war, durch Trumps Intervention aber nicht einen einzigen Tag davon absitzen musste. Stone wusste, was ihm im Gefängnis geblüht hätte. Er hat Trump nach seiner Begnadigung gedankt und erklärt, in der Haftanstalt, die für ihn vorgesehen war, seien schon mehr als zwanzig Fälle von Covid-19 registriert worden.

Millionen andere können von einer derartigen Vorzugsbehandlung nur träumen. Sie haben niemanden, der von Amts wegen Blankoschecks ausstellen darf. Im Gegenteil: Die meisten Häftlinge sind durch Corona noch isolierter. Besuche werden zum Teil ganz untersagt, und dort, wo sie noch erlaubt sind, wird ihre Häufigkeit und die Dauer stark eingeschränkt.

Inzwischen versuchen die Gefängnisse der Epidemie mit Corona-Tests Herr zu werden. Wer neu reinkommt, rausgeht oder in ein anderes Gefängnis verlegt wird, soll auf das Virus geprüft werden. Die grundlegenden Probleme der Gefängnisse werden damit aber nicht gelöst. Die Pandemie wütet weiter. In manchen Haftanstalten ist gar nicht genug Platz, um Infizierte zu isolieren. Und auch das Personal ist längst am Rand der Erschöpfung. Manche schieben inzwischen regelmäßig 16-Stunden-Schichten, selbst zwei Tage Dienst am Stück kommen vor – Zustände und Zahlen, die man sonst nur aus Krankenhäusern kennt.

Verglichen mit den Kliniken und den dort beschäftigten Ärzten und Pflegern bekommen Gefängnisse und ihr Personal medial allerdings deutlich weniger Aufmerksamkeit, und die Häftlinge werden in der Regel ganz ignoriert. Und doch holt die Pandemie auch in diesem Falle nur das an die Oberfläche, was in den Tiefenschichten der Gesellschaften schon lange angelegt war, in den USA wie auch in Deutschland. Gefängnisse sind hier wie da ein weitgehend verdrängter Teil jener Gegenwart, aus der sich die Geschichte letztendlich speist. Es sind Orte zum Vergessen, aufgelöst und überlagert von unserer eigenen Angst. Es ist die Furcht all jener, die sich in Freiheit befinden.

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

Das „Tagebuch eines Hilflosen“ als Buch ab Frühjahr im Verlag Matthes & Seitz.

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