LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelIch stehe in Richtung Zukunft vor einer grauen Nebelwand. Zum ersten Mal in meinem Theaterleben war ich vier Monate in einem Jahr arbeitslos. Ich hoffe auf das Frühjahr, ich träume vom Sommer, vom Theaterspielen im Freien.

Das Jahr 2020 hat vieles verändert; noch träumen wir hin und wieder naiv davon, dass alles wieder so werden könnte wie vorher. Und wie schnell haben wir uns gewöhnt an die IST-Zustände … Ich zucke zusammen, wenn ich im Film Menschen sehe, die sich die Hand geben. Schon nach so kurzer Zeit bin ich gewohnt, das als falsch oder gefährlich zu betrachten … wir Menschen sind füreinander potentielle Gefährder geworden.

Aber es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass SARS-CoV-2 auch über die prognostizierten 18 Monate hinaus fortwirken wird. Eventuell ist eine Wiederansteckung möglich, vielleicht tauchen neue Viren auf. Es ist denkbar, dass Notmaßnahmen normal werden (um die Möglichkeit weiterer Ausbrüche einzudämmen), genau wie beim Ausnahmezustand in den USA nach 9/11, der heute noch in Kraft ist.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

Das bedeutet, die vorübergehenden Veränderungen unser Lebensführung könnten dauerhaft werden. Auf der anderen Seite ist so deutlich, wie verbunden wir miteinander sind in dieser Pandemie, weltweit.

Ich träume von Theater. Immer dann, wenn es möglich ist, ein paar Vorstellungen zu spielen, sind die Besucher so, so dankbar! Und ich! Aber die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklungen geht rasant woanders hin, zur Distanzierung, zur Digitalisierung, zum sicheren (und bequemen) Bildschirmerlebnis, allein oder in kleinen Gruppen. Das wird momentan auch massiv gefördert auf Bundesebene, die Ausrüstung der Theater für die Pandemie u. a. mit Mitteln zur Digitalisierung.

Die analoge Menschenmenge im Theater oder Konzert, die Publikum genannt wird und die sich gemeinsam auf ein Erlebnis einlassen, die einem Atem folgen, die gemeinsam in einem Erlebnisfeld Spannung, Erheiterung, Trauer erleben und ihre Gefühle dabei multiplizieren, ist momentan für mich ganz weit weg. Klar werden wir nicht plötzlich 2000 Jahre Kulturgeschichte wegwerfen. Erzählen bleibt ein menschliches Grundbedürfnis. Aber Theater wird sich wandeln, vermute ich. Nicht plötzlich, sondern so, wie wir alle uns ändern in Pandemie-Zeiten. Ängstlicher werden, zurückhaltender, distanzierter.

Im Sommer 2020 habe ich vor den Freiluftvorstellungen hier im Gartentheater jedes mal eine Brandrede gehalten: Liebe Gäste, Sie sind hier im Freien sicher, sie sitzen im Abstand zueinander, genießen sie entspannt den Abend. Das hat die Situation spürbar verändert. Ein gewisses Maß an Angstfreiheit braucht es , damit ein Publikum sich entspannt und mitspielt. Theater ist ja keine Einbahnstraße von der Bühne herab, es ist ein Prozess, der von zwei Seiten gestaltet wird.

Die Vorstellung, im Theater maskierten Menschen gegenüberzustehen, war am Anfang seltsam, als wären sie Teil der Inszenierung und verweigerten sich bewusst dem Zeigen von Emotionen. Heute würde ich mich freuen, wenn wir überhaupt Theater spielen könnten, auch wenn die Zuschauer im Saal Masken tragen und 5 m auseinander sitzen. Aber das ist reiner Lebenserhaltungstrieb: wenn ich nicht auftreten kann, spüre ich das körperlich und seelisch als Leerstelle.

Klar suchen wir neue Wege, in digitalen Räumen in Verbindung mit den Zuschauern zu bleiben, aber das ist für mich eine Krücke und ich denke, im nächsten Jahr sollten wir darauf dringen, dass analoge Bühnenkunst wieder möglich wird. Die Einordnung des Theaters als entbehrliches Freizeitverhalten im November durch die Bundesregierung, empfinde ich als Affront.

Andererseits wird die Freie Theaterszene vom Bund so breit und substanziell gefördert wie noch nie. Das ist wunderbar. So proben wir trotz aller Unsicherheiten an einer neuen Inszenierung frei nach Shakespeares „Wie es euch gefällt“, die irgendwann in der ersten Jahreshälfte Premiere haben soll. Der Schlusssong wird heißen: „All you need is love!“ Yeah!

Ich träume und plane ganz real, im nächsten Sommer mit einem Fahrradtheater in Parks und Gärten aufzutreten. Ganz friedlich und langsam ohne Auto zum Spielort zu fahren. Sich Zeit zu nehmen unterwegs … Am Spielort werden wir dann versuchen, mit den Zuschauern gemeinsam das Märchen vom Eselein zu spielen, auch mit Abstand und allen Regeln. Wir alle brauchen dringend Momente des Spiels, des Vertrauens, der Freude. Vielleicht kann das ein Gegengewicht zum medizinisch sinnvollen social distancing sein?

Da sind noch die Fragen an den Tod. Stellt euch vor, ihr könntet selbst eure Eltern nicht mehr sehen, sie nicht umarmen, nicht mit ihnen lachen, um ihnen damit vielleicht das Leben zu retten? Wie lange würde das gehen? 3 Monate? 1 Jahr? 5 Jahre? Und: würden eure Eltern selbst das so wollen? Solche Fragen lassen sich nicht einfach beantworten, sie sind brutal. Und doch werden sie gestellt.

Ich habe gerade vor einem Jahr meine Mutter verloren, sie war gerade kurz vor dem ersten Corona-Ausbruch in einem Pflegeheim angekommen. Sicher ist ihr eine lange Zeit der Trennung von uns erspart geblieben, vielleicht viel Leid, sie hätte uns sehr vermisst und vielleicht geglaubt, wir hätten sie vergessen. Hätte ich es ausgehalten, dass sie hinter dem Fenster steht und weint und ich kann sie nicht besuchen, ihr nur winken?

Ich sehe meinen Enkel, ein zarter Junge, noch nicht zwei Jahre auf der Welt, im Sommer wird er hoffentlich in unserem Gartentheater auf Papas Schoß sitzen und zum ersten Mal bewusst Theater aufnehmen. Ich bin jeden Tag erstaunt, wie er unsere Bewegungen spiegelt, jeden Gesichtsausdruck, jede Tätigkeit. Was gibt es Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren? Niemand möchte das, kaum jemand kann das ermessen, der es nicht erlebt hat. Und doch ist es wichtig, dass ein Kind die Räume der absoluten Sicherheit und Kontrolle verlässt, existenzielle Erfahrungen macht, um Erwachsen zu werden.

Ich träume davon, wieder gemeinsam mit Menschen in einem Kreis stehen und singen zu können, aus voller Kehle, miteinander in Resonanz. Dass Singen so gefährlich ist, gehört auch zur Signatur dieser Pandemie. Aber es gibt wenig sonst, was uns Menschen so verbinden kann wie unsere Stimmen. In einem vielstimmigen Chor zu singen, ist für mich der Traum von einem Leben in Freiheit und Gemeinschaft.

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