LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelGrade die letzten Wochen vor Weihnachten dienen in normalen Jahren Filmverleihern dazu, dem Publikum neben zuckersüßen romantischen Komödien und Familienfilmen auch eher mäßige Horrorfilme zu präsentieren. Den kürzesten Plot für einen Horrorfilm über dieses für viele unter uns so verkorkste Jahr 2020 verfasste neulich mein Kollege Michael Schweßinger: „Und jetzt stellen wir uns doch diesen Winter mal mit einem 56K-Modem vor.“
Hm, erinnern Sie sich? E-Mails, die Minuten brauchten um ausgeliefert zu werden, Webseiten, die wirkten wie Wandzeitungen ohne Fotos und wir alle hatten noch Telefonanschlüsse bei der Terrorkom, einfach weil es keine echte Alternative gab. Wie happy saßen wir doch damals unter und um die Christbäume und stritten darüber, wer als nächster das geheiligte TV-Gerät nutzen durfte um darauf Teletennis zu spielen.
Außerdem orientierte man sich auf dem Weg zur Verwandtschaft nicht per Navi sondern anhand des großen ADAC-Deutschlandatlas. Der quietschgelb war, eine halbe Tonne wog und Beifahrern regelmäßig vom Schoss rutschte. Oh die guten alten Zeiten!
Man wird ganz wuschig vor Nostalgie. Nostalgisch, wenn auch auf eine eher unangenehme Art wird mir angesichts einiger anderer aktueller Vorgänge in der Welt.
Angesichts von Boris Johnsons Brexit-Desaster könnte ich mich fast nach Madam Primeminister Margaret Thatcher zurücksehnen. Die hat zwar die britische Industrielandschaft auch ruiniert. Aber ihre Machenschaften innerhalb der EU erschöpften sich darin, entweder sicherzustellen, dass die einem neoliberalen Wirtschaftsweg folgte oder bei jeder Gelegenheit lauter zu fordern, dass man die britischen Beitragszahlungen gefälligst reduzierte.
Beides war schlimm genug. Aber dennoch bei weitem nicht so radikal borniert wie inmitten der größten Gesundheits- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ohne ein tragfähiges Zukunftskonzept aus der EU auszusteigen, wie Mister Johnson das beabsichtigt.
Ich habe vor über zehn Jahren mal einen Jahreswechsel in Nepal verbracht. Wie die meisten Touristen und Resthippies unter 60 der Stadt, landete ich damals schließlich am Weihnachtsabend in einer Nachtbar namens Busy Bee. Die bot erträgliche Preise und Livemusik.
Irgendwann weit nach Mitternacht bildete sich ein harter Kern von Resteinsamen, die sich um die Feuerstelle sammelten und die letzte Runde ausdehnten, indem sie Tabletts voller zu dünnem Bier aber ganz guter Cocktails orderten. Zwei ältere, offenbar irische Männer, begannen irgendwann traurige Lieder zu singen. Sie waren gut aufeinander eingespielt und klangen gar nicht übel als Latenight Band.
Meine irische Geliebte, die neben mir saß, flüsterte mir die Namen der Männer zu und erklärte, dass sie steckbrieflich gesuchte IRA-Terroristen waren und nach dem Fall der Mauer Nepal wohl das einzige Land war, das sie nicht verhaften und ausliefern würde. Die beiden waren seit über zwanzig Jahren auf der Flucht und dieser Nachtclub in Pokhara stellte ihre Endstation dar.
Ihre Hinweise sorgten dafür, dass mir die Songs der beiden Typen wohl nähergingen als die des spanischen Pärchens, das nach ihnen zu singen begann. Neulich sah ich, dass die Fotos und Namen der zwei Iren immer noch auf einer Fahndungswebseite verzeichnet waren.
Sie mussten inzwischen über dreißig Jahre auf der Flucht sein. Und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie auch dieses Jahr wieder zwischen gestrandeten Touristen und Expats den Weihnachtsabend im Busy Bee in Pokhara verbringen mochten.
Vor einhundert Jahren fanden sich in irgendeinem zweifellos staubigen und immer noch ziemlich viktorianisch anmutenden Büro im Londoner Kolonialministerium eine Gruppe von Beamten und Politikern zusammen um sich über den Verlauf einer Grenzlinie durch die grüne Insel zu verständigen. Die für alle Seiten im eben zu Ende gegangenen Unabhängigkeitskrieg der Iren akzeptabel sein sollte. Ich glaube nicht, dass einer der Gentlemen in diesem Büro dabei andere Absichten verfolgte, als die, zu einem angemessenen Ende des Konflikts beizutragen.
Dennoch saßen nahezu 90 Jahre später jene beiden IRA-Männer um das Feuer in Pokhara, Nepal, herum und sangen wehmütige Songs über untreue Marys und tiefgrüne Felder, gutem Whisky in Bechern oder die verfallenen Ruinen alter Festungen. Jener Frieden, um den die Beamten und Politiker sich damals in dem Londoner Büro bemühten, hatte sich als äußerst trügerisch erwiesen.
Später warf man jenen Gentlemen vor, in ihrer Grenzziehung und bei der Formulierung des entsprechenden Abkommens zu oberflächlich vorgegangen zu sein. Man wies ihnen daher einen Teil der Schuld daran zu, dass Irland kurz darauf in einem Bürgerkrieg mit tausenden Toten versank, dem ein reichlich vierzig Jahre dauernder unruhiger Frieden zwischen Nord und Süd folgte, welcher schließlich in eine jahrzehntelange Terrorkampagne mündete, die erneut tausende Opfer forderte.
Die Formulierungen solcher Abkommen und die Verfassung bestimmter Vorschriften, die mit deren Umsetzung einhergehen, sind extrem sensible Dokumente. Jeder Fehler, jede Oberflächlichkeit darin, zieht enorme Konsequenzen nach sich.
Angesichts des aktuellen Unmuts in Schottland über den Brexit und der immer lauter werdenden nationalistischen und loyalistischen Sprüche aus Nordirland, frage ich mich, ob man Boris’ Ministertruppe aus neoliberalen Glücksrittern und Empire-Nostalgikern zutrauen darf, zu einer Vereinbarung mit Brüssel zu kommen, die sich langfristig als tragfähig genug erweist, um das Vereinigte Königreich weiterhin als vereinigtes Königreich zusammenzuhalten.
Man mag mir vorwerfen, dass ich über eine seltsame Fantasie verfüge. Doch gerade stelle ich mir vor, wie mein heute zehnjähriger Neffe eines fernen Tages an irgendeinem anderen ziemlich gottverlassenem Ort am Rande der Welt an einem Feuer sitzt. Und dort einem Schotten, Waliser oder Yorkshireman lauscht, der dort davon berichtet, wie er einst mithilfe von Autobomben und Knieschüssen versuchte, seinen Teil des ehemaligen United Kingdoms zurück in die EU-Mitgliedschaft zu zwingen.
Andererseits gilt die Zeit um Jesus alljährlich weltweit gefeierte Birthdayparty auch als besonders wunderkräftig. Es war immerhin der Brite Charles Dickens, der uns jene klassische Weihnachtsstory schenkte, worin geschildert wird, wie ein uneinsichtiger Geizhals und Dummkopf an Heiligabend so frontal mit den Konsequenzen seiner Gier konfrontiert wird, dass er sich zu einem zurückhaltenden Menschenfreund wandelte.
Frohe Weihnacht mit der neuen „Leipziger Zeitung“ oder: Träume sind dazu da, sie mit Leben zu erfüllen
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