Die Zeiten sind angespannt. Das wird sich im neuen Jahr zunächst nicht ändern. Nichts ist derzeit normal. Obwohl vor einigen Tagen die Impfkampagne zum Schutz gegen das Coronavirus begonnen hat, müssen wir weiter mit Einschränkungen leben. Das geht an die Substanz. Denn immer deutlicher wird: Es bleibt nicht nur bei einer Unterbrechung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Es bricht auch einiges zusammen – nicht nur für die, die an Corona erkranken, und diejenigen, deren nächste Angehörige an oder mit dem Coronavirus gestorben sind.

Auch für die, die die Krise wirtschaftlich nicht überleben oder sozial aus der Bahn geworfen werden, bleibt das viel beschworene Licht am Ende des Tunnels im Trüben. Auf der Strecke bleiben könnten aber auch einige wichtige Grundwerte des menschlichen und sozialen Miteinanders einschließlich der Gewöhnung an Ausnahmesituationen wie der Einschränkung der Grundrechte mit gefährlichen Folgen für das demokratische Miteinander.

Doch da ist noch ein Problem: In Krisenzeiten drohen wir den Blick über die eigenen Probleme hinaus zu verlieren und lassen es an Solidarität mangeln. Jeder der eine Trauerphase durchzustehen hat, spürt sehr schnell: die Versuchung, nur noch sein eigenes Leid zu sehen und sich abzukapseln, ist groß. Trauer kann egoistisch machen.

Das gilt auch für eine gesellschaftspolitische Lage wie die in Coronazeiten, die uns schmerzliche Abschiede abverlangt. Berührt uns noch das Schicksal der Geflüchteten auf Lesbos und jetzt in Bosnien-Herzegowina? Wir regen uns auf über organisatorische Pannen zu Beginn der Impfkampagne. Haben wir die gleichen Sorgen auch im Blick auf eine weltweit gerechte Verteilung der Impfstoffe?

Um sich diesen Blick über den Tellerrand zu bewahren, bedarf es nicht nur politischer Wachheit. Es sind auch Orientierungszeichen, Weckrufe, Wegweisungen hilfreich. Kurze Hinweise, die zum Innehalten, Nachdenken, Umsteuern anleiten und ermutigen. Einen solchen finden wir in der neuen Jahreslosung – ein Bibelwort, das von den Kirchen ausgerufen wird und als eine Art Kompass im neuen Jahr dienen kann. 2021 ist die Jahreslosung der sog. Feldrede Jesu, eine parallele Überlieferung der Bergpredigt im Lukasevangelium, entnommen:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Die Bibel: Lukas 6,36)

Barmherzig sein – das beinhaltet Empathie für den Nächsten zeigen, Rücksicht nehmen, vom Anderen her denken, den hilfsbedürftigen Nächsten in den Mittelpunkt stellen – unabhängig davon, ob mir seine Lebensweise gefällt oder nicht. Denn wer barmherzig ist, überwindet alle Vorbehalte gegenüber dem nahen und fernen Nächsten und stellt keine Vorbedingung für seine Zuwendung.

Wir diskutieren, ob Menschen, die sich impfen lassen, dadurch Vorteile in Anspruch nehmen können. Das ist eine ähnliche Debatte wie die, ob Raucher/-innen, Übergewichtige, Skifahrer/-innen höhere Krankenkassenbeiträge zahlen sollen. Zu Ende gedacht würde das bedeuten, dass man bei der Behandlung von Kranken diejenigen bevorzugt, die gesundheitsbewusst, rücksichtsvoll leben, und die anderen benachteiligt bzw. bestraft.

Doch das wäre das Gegenteil von Barmherzigkeit und Solidarität. Diese nehmen den Menschen in seiner Hilfsbedürftigkeit so an wie er ist. Da wird nicht zuerst nach dem eigenen Schuldanteil an der Lebenslage gefragt. Es wird geholfen.

Genauso ist Jesus den Menschen begegnet: Er hat sich ihnen zugewandt, ohne vorher abzuschätzen, ob sich Heilung lohnt oder nicht. Nach der Heilung allerdings hat er den Menschen mit auf den Weg gegeben, ihr Leben neu auszurichten. Genau das beinhaltet das schöne Wort von der Barmherzigkeit: Erbarmen und herzliche Anteilnahme am Leid des Menschen.

In der Feldrede begründet Jesus seine Aufforderung damit, dass Gott, „euer Vater“, genau in dieser Weise den Menschen begegnet – nie die Schuld aufrechnend, sondern den Neuanfang ermöglichend. Mit dieser Barmherzigkeit werden wir von allem Gerechtigkeits- und Richtigkeitswahn befreit. Dieser führt leider immer wieder dazu, dass die besten Absichten (und damit auch Menschen) dem eigenem Bedürfnis, der andere möge sich gefälligst so verhalten wie ich selbst, geopfert werden.

Doch wir Menschen leben in Widersprüchen – nicht nur der, der unter die Räder gekommen ist. Diese können wir nicht aus der Welt schaffen. Wir können sie allerhöchstens dadurch einebnen, dass wir uns ihnen offen stellen und sie nicht als gottgegeben hinnehmen. Das geht aber nur, wenn wir uns gegenseitig in Barmherzigkeit begegnen. Durch diese lassen sich die Grenzen und inneren Schranken überwinden, die uns vom nahen und fernen Nächsten trennen. So können wir uns den uneigennützigen Blick auf die bewahren, die unserer Barmherzigkeit bedürfen.

Gastkommentar von Christian Wolff: Weihnachten in Coronazeiten

Gastkommentar von Christian Wolff: Weihnachten in Coronazeiten

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar