Ein Jahr geht zu Ende. Und überall gibt's trübe Kommentare: „Dies durften wir nicht und jenes nicht.“ Grundtenor: „Was für ein beklopptes Jahr.“ Und je mehr von diesem seltsamen Kommentaren ich lese oder höre, umso mehr verstärkt sich mein Gefühl: Dieses Jahr hat unbarmherzig freigelegt, wie selbstgerecht und jämmerlich eigentlich die Leute sind, die uns jeden Tag erklären, wie die Stimmung ist und wie schrecklich dieses 2020. Kleiner Tipp: Gehen Sie heute Abend einfach mal in die Karl-Heine-Straße.

Da gibt es heute die Lichtspiele des Westens, zu denen auch Ulrike Lux und Kay Brudy von der Galerie Bipolar ganz herzlich einladen:

Liebe Licht- und Kunstentbehrende in Euern Sofakuhlen…

Wie wäre es, wenn Ihr Euch am Samstag, 05.12.20 zwischen 16 und 21 Uhr auf einen Spaziergang durch die von den Lichtspielen des Westens erleuchtete Karl-Heine-Straße aufmacht? Dabei könnt Ihr Eure Verspannungen ein wenig lösen und sicher hier und da ein (alkoholfreies) Heißgetränk oder eine andere Kleinigkeit erwerben. Oder Ihr spendet Euren Taler für die „Seebrücke“: Wir widmen unsere diesjährige Installation der Solidarität mit den Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer.

Kommt also schlendern, erfreut Euch Eures Augenlichts und tut Euch und anderen etwas Gutes.

Liebe Grüße

Ulrike Lux und Kay Brudy

Etwas forscher lud die Schaubühne Lindenfels ein:

„Lichtspiele des Westens“: Fenster erleuchten im Leipziger Westen am 5. Dezember

Licht an im Leipziger Westen! Die „Lichtspiele des Westens“ in Plagwitz-Lindenau haben inzwischen Tradition. Zum vierten Mal gestalten Künstler/-innen, Gewerbetreibende und Anwohner/-innen des Boulevard Heine (Karl-Heine-Straße) und umliegender Straßen gemeinsam diese nachbarschaftliche Initiative.

Nachdem in den vergangenen Jahren auch Aktionen auf der Straße stattfanden, wird es diesmal nur hinter Fenstern leuchten und von Balkonen schallen. Nachbarn und Freunde können coronaconform spazieren, schauen und mitmachen. Ein Lichtgruß über die Straße, ein solidarisches Zeichen, gemeinsam durch die Pandemie zu gehen und auch mit Abstand nicht allein zu sein.

„Lichtspiele des Westens“ in Plagwitz-Lindenau – Karl-Heine-Straße und umliegende Straßen

Sa, 5. Dezember 2020 | 16–21 Uhr

Strahlende Fenster, Projektionen an den Hausfassaden, Installationen in Schaufenstern: Jeder kann mitmachen und ist eingeladen, seine Lichtidee umzusetzen.

Die besten Beiträge werden ausgezeichnet: Anwohner/-innen können dafür ein Bild ihres Beitrages an boulevard.heine@schaubuehne.com senden oder unter dem Hashtag #lichtspieledeswestens auf Instagram posten.

www.boulevardheine.de/lichtspiele

#lichtspieledeswestens

Mediterranean Bycatch. Foto: Galerie Bipolar
Mediterranean Bycatch. Foto: Galerie Bipolar

Manchmal sind es nur Worte, die einen anrühren. Manchmal sind es Bilder. Wenn uns 2020 irgendetwas gezeigt hat, dann genau das, was in den ganzen Jahresbilanzen nicht vorkommt: Wie sehr wir uns mit unserer von Konsum, Leistung und Wachstum besoffenen Gesellschaft entfernt haben von all den so gern beschworenen Werten.

Wir haben uns in diesem Jahr rücksichtslos, feige und ignorant benommen.

Nicht wir alle. Aber wir können uns nicht wirklich herausnehmen: Die Politik, die uns geboten wird, hat die Mehrheit von uns so gewollt. Genau diese gefühllose, von Wortblasen bestimmte Schöner-Schein-Politik, die sich mit Corona genau so zeigte, wie sie vorher auch schon war: unsolidarisch, herzlos, immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Der rabiate Umgang mit den Flüchtlingen in Moria und auf dem Mittelmeer sind nur ein Teil dieser von Knauserigkeit und Herzlosigkeit bestimmten Politik.

Wir haben uns das alles nur in schöne Worte gepackt. Aber im März und jetzt spätestens mit den steigenden Erkrankungszahlen seit Oktober leiden auch wieder all jene, denen wir im Frühjahr so blasiert zugeklatscht haben, all die Menschen in „systemrelevanten Berufen“. Die Schwestern und Pflegekräfte, das überforderte medizinische Personal. So nebenbei haben wir auch noch die Solo-Selbstständigen zu Hartz-IV-Empfängern gemacht, Musiker und Schauspieler um ihre Auftritte gebracht, weil es irgendwie eine 1. Wirtschaft gibt in Deutschland und eine Wirtschaft 2. Klasse.

Ehrlich? Ich war mehrfach entsetzt und erschüttert in diesem Jahr, wie feige die von uns gewählten Politiker gehandelt haben. Wie sie zwar haufenweise salbungsvolle Worte parat hatten. Aber wenn es ans Handeln ging, war ihnen ihr Ego immer wichtiger als das Leid der Menschen, das eigentlich gelindert werden sollte.

Und dabei war dieses Jahr voller berührender Momente, die uns eigentlich gezeigt haben, wie sehr unser Gefühl, am Leben zu sein, dicht unter der Oberfläche schlummert. Und dazu musste es gar nicht erst zu Kontaktbeschränkungen kommen. Die haben erst die Leute aufgeregt, die wirklich erst bei Direktkontakt mit anderen merken, dass diese ganzen menschlichen Beziehungskisten eben nicht nur eine Belastung sind, sondern einen für gewöhnlich jedes Mal bereichern, aufwühlen, auftanken. Nur: Vorher war das den meisten überhaupt nicht bewusst. Die nahmen das einfach so hin.

Und dazu kamen ja noch all die Hartleibigen, die seit Jahren mit Missgunst, Pöbelei und Verächtlichmachung die Stimmung anheizten und alles madig machen. Manche mit Absicht, weil sie dabei sadistische Gefühle ausleben. Andere möglicherweise auch aus einer riesigen Verzweiflung heraus.

Denn dass sie sich in den digitalen Netzwerken derart auspöbeln, hat oft genug damit zu tun, dass sie vorher schon einsam waren. Eingesperrt in ihrem Gefühl immerfort ausgegrenzt und nicht geliebt zu werden. Wer erst auf der Straße um „Liebe“ demonstrieren muss, der muss ein gewaltiges Manko an eben dieser haben.

Was eigentlich logisch ist in einem Land, in dem alles nach Euro und Cent berechnet wird. Und wo solche unbezahlbaren Dinge wie Liebe und Vertrauen von Controllern und anderen Technokraten hinausredigiert werden aus immer mehr Lebensbereichen. Es rechnet sich ja nicht. (Haben Sie schon alle Ihre Rechnungen bezahlt? Schulden Sie vielleicht noch jemandem etwas? Weiß die Schufa davon?)

So, wie sich Menschsein insgesamt nicht rechnet. Die Markt-Advokaten haben unser Menschsein zum Störfaktor werden lassen, zu einer Belastung für ihre Rendite, den „Markt“ und das „Wachstum“.

Das hat verdammt viele in diesem Land einsam gemacht. Auch ratlos. Einzelkämpfer haben keine Zeit und keine Nerven mehr für das so störend Menschliche, das uns miteinander verbindet. Denn Zeit ist ja Geld.

Und Geld verdient man nicht, wenn man sich anderen Menschen öffnet. Oder sich selbst diesem bisschen Natur da draußen gegenüber, das wir uns noch „gönnen“, weil wir doch lieber Leuten alle Macht in die Hand geben, die alles verwerten – bis zum letzten Fitzelchen. Egal, ob das die Wiese vorm Haus ist, der Ackerrandstreifen, der Kies unter dem Wäldchen, das geistige Eigentum anderer.

Wir leben in einer herzlosen Gesellschaft, die immer am Jahresende so einen Jammerich kriegt und sich peinlich was vorlügt von seligen Weihnachten. Dem Fest wird alles aufgeladen, was man sich das Jahr über nicht erlaubt hat an Gefühlen, Nähe und Besinnung. Nicht mal im Frühjahr, als der Laden endlich mal wirklich still war.

Für etliche sieht das wie ein vollkommen verlorenes Jahr aus. Für wenige – wahrscheinlich wieder zu wenige – als ein Gewinn an wiederentdecktem Menschsein. Denn dazu braucht es weder Ferienflieger noch Kreuzfahrtschiffe noch Partys, Oktoberfeste oder Weihnachtsmärkte. Dazu braucht es nur ein offenes Herz und den Wunsch, das Leben dann zu fühlen und zu empfinden, wenn es da ist. Jetzt nämlich. Immer: jetzt.

Die Frage ist nämlich: Werden wir gelebt oder leben wir unser Leben selber?

Und: Gestehen wir das auch den vielen anderen zu, die da noch mit uns auf diesem Planeten leben, der nach allem, was wir wissen, auf Lichtjahre hinaus einzigartig ist. Ein unverhofft seltenes Ereignis in diesem Kosmos.

So ein Spaziergang auf der abendlich erleuchteten Karl-Heine-Straße könnte helfen, dafür eine Antwort zu finden. Oder zwei oder drei.

Die Serie „Nachdenken über …

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