Die Geschichte ist den deutschen Journalisten das liebste Beweisstück, auch wenn sie in Wahrheit natürlich gar nichts beweist. Aber jetzt, wo man die Geschichte zumindest mal aus Plausibilitätsgründen rausholen könnte, bleiben die Federn stumm. Oder sagen wir besser: sie stecken weiter im Hahn, sind tief ins Fleisch des Trump-Gockels gestopft, um ihn bis ins Detail zu analysieren – ab in die Tiefe und dann von innen heraus, so lief das in der deutschen Geistesgeschichte schon immer.

Aber was soll’s. Mir kann das egal sein. Ich mag die bedeutungslosen Tiefen der Oberfläche. Die Berge an Daten. Den schönen Schein, der sich in den Diskursen verfängt und von da aus zur Wahrheit gerinnt. Die zeitlos Vergeistigten interessieren mich nicht. Deshalb hier auch keine Vorabanalysen, kein hermeneutisch grundiertes Heureka, keine Abschätzung der künftigen Lage.

Die Unbekannten, die mich interessieren, sind nicht Meinungen, die sich in Umfragen kundtun, sondern die Kandidaten, die auf der Liste stehen, auch wenn sie kaum einer auf der Liste hat.

Die Rede ist von den Drittparteien und ihren Kandidaten, die sich ebenfalls ums Präsidentenamt bewerben. Und das sind eine Menge – und sie verteilen sich politisch wie geographisch. Die libertäre Jo Jorgensen ist in allen 50 Bundesstaaten dabei, derweil die Grünen rund um den ehemaligen Paketauto-Entlader Howie Hawkins immerhin noch in 42 Bundesstaaten antreten.

Auch die unermüdliche Gloria La Riva ist mit ihrer Socialism and Liberation-Partei ganz gut vertreten, während die Wal Mart-Kassiererin Alison Kennedy mit ihren Socialist Workers ziemlich hinterherhinkt. Besser sieht’s dagegen für den alten Haudegen Rocky de la Fuente aus. Der hat sich bisher zwar in neun verschiedenen Bundesstaaten erfolglos als Senator versucht, will jetzt aber Präsident werden.

In 15 Bundesstaaten hat er’s immerhin schon auf den Wahlzettel geschafft, und in ein paar anderen kann man ihn noch dazuschreiben. Auch Donald Trumps alter Kohlekumpel Don Blankenship will’s noch mal wissen und hat sich mithilfe der rechtskonservativen Verfassungspartei in rund der Hälfte aller Bundesstaaten aufstellen lassen.

Aber das sind längst noch nicht alle. Zu diesen Parteikandidaten kommen nämlich noch diverse Klein- und Kleinstgruppenvertreter, Unabhängige und Randgruppen aller Art. Insgesamt stehen – Stand heute – 1.225 Männer und Frauen auf den Wahlzetteln. Und noch ein paar Leute, von denen ich nicht sagen kann, ob es Männer oder Frauen sind, da auch Pseudonyme erlaubt sind.

Zu den neuesten Anmeldungen gehören jedenfalls ein gewisser Jesus Christ Yeshua King of Kings Lord of Lords und jemand, der (oder die) sich Chode Creamy Yuh Yuh nennt. Allerdings muss Yuh Yuh mit dem Jubeln noch warten, denn die Wahlkommission hat sie (oder ihn) noch nicht bestätigt.

Die Zahl der Kandidaten ist trotzdem gigantisch, die politische Zugehörigkeit in den meisten Fällen undurchsichtig bis unbekannt und die allgemeine Unübersichtlichkeit so groß wie man’s sonst nur aus der Geschichte linker K-Gruppen kennt.

Die Sache wird freilich noch verworrener, wenn man bedenkt, dass der oben erwähnte Rocky de la Fuente von Hause aus Republikaner ist, es bei seiner Partei aber nicht durch die Vorwahl geschafft hat, weshalb er jetzt von der Allianz Partei, der Reform Partei, der Naturrechtspartei, der American Independent Party und der American Delta Party als Kandidat nominiert worden ist.

Und als wäre das nicht schon genug, ist auch sein Sohn Rocky de la Fuente III mit von der Partie, allerdings ist der auf einem demokratischen Ticket unterwegs ins Weiße Haus. Dass außer Trump oder Biden dort kein anderer ankommen und Platz nehmen wird, ist zwar klar. Die Frage ist aber, welchen Einfluss diese Drittbrettfahrer aufs Wahlergebnis haben.

In den Bundesstaaten, in denen es eng wird, reichen schließlich manchmal schon ein paar tausend Stimmen, die von Biden oder Trump wegwandern, um den jeweils anderen zum Sieger zu machen. So was kann am Ende wahlentscheidend sein. Man denke nur an die grüne Kandidatin Jill Stein, die 2016 dazu beigetragen hat, dass Hillary Clinton nicht nur Pennsylvania, Michigan und Wisconsin verlor, sondern die ganze Wahl in die Tonne kloppen konnte.

Oder Ralph Nader, der Al Gore im Jahr 2000 in Florida die Stimmen wegnahm, woraufhin George W. Bush triumphierte. Zumindest steht das so in den Lehrbüchern. Und auch unter Journalisten gilt das als Fakt. Sogar das große Politiklehrbuch für Pressevertreter, die Wikipedia, schreibt zur damaligen Abstimmung: „Bei der Wahl wurde Nader wie vorausgesagt zum ,Zünglein an der Waage‘. Im Bundesstaat Florida hätten allein 600 der 97.488 Nader-Stimmen schon für den demokratischen Kandidaten Gore zum Sieg über Bush gereicht. Für den Fall, dass Nader nicht angetreten wäre, hätten laut Wahlanalyse 25 % der Wähler Naders Bush gewählt, wohingegen 38 % seiner Wähler Gore gewählt hätten. Der Rest wäre den Nichtwählern zugefallen. Schenkt man diesen Zahlen Glauben, so wäre ohne Naders Kandidatur 2000 Al Gore zum Präsidenten gewählt worden.“

Genau das aber wird inzwischen bezweifelt. Das heißt, es wird schon länger bezweifelt, doch bin ich erst heute auf die entsprechenden Quellen gestoßen. Ausgangspunkt meiner Recherchen waren die vom politischen Analysten Richard Winger herausgegebenen Ballot Accces News. (Nebenbei bemerkt: Winger gibt seinen mit sämtlichen wahl- und wahlrechtsrelevanten Themen bestückten Newsletter seit 1985 heraus, um „faire und gerechte Wahlen zu fördern“. Aber versuchen Sie mal, auch nur einen einzigen deutschsprachigen Zeitungsartikel zu finden, der diese ebenso beispiellose wie höchst informative Quelle auch nur erwähnt.)

Aber wie dem auch sei, Winger hat auf seiner Webseite gestern jedenfalls einen Offenen Brief verlinkt, den der Gründer des Center for Competitive Democracy, Oliver Hall, vor ein paar Tagen verfasst hat. Hall setzt sich darin mit dem vermeintlichen Fakt auseinander, Nader habe Gore den Sieg bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 mit seinen Stimmen „geklaut“. Halls These: Der vermeintliche Fakt ist eine Fiktion. Die These stimmt hinten und vorne nicht.

Als Beleg zitiert Hall eine Reihe von Untersuchungen, die – zumindest auf den ersten Blick – seine Ansicht nicht unbedingt stützen. Er beginnt mit der Studie zweier Politikwissenschaftler (Herron/Lewis: Did Ralph Nader Spoil a Gore Presidency? A Ballot-Level Study of Green and Reform Party Voters in the 2000 Presidential Election). Die Autoren neigen eigentlich eher der bekannten „Diebstahlthese“ zu, geben aber zu bedenken, dass ohne Nader nur 60 % der Wähler auf Gore umgeschwenkt wären, derweil 40 % ihr Kreuz bei Bush gemacht hätten.

Da die Daten, die ihrer Rechnung zugrunde lagen, aus zehn Wahlbezirken stammten, die stark demokratisch dominiert waren, muss man allerdings von einer gewissen „Linksverschiebung“ ausgehen und annehmen, dass sich die Präferenzen ohne Nader eher Fifty-Fifty verteilt hätten. Zudem ist zu bedenken, dass einige Wähler ohne Nader gar nicht zur Wahl gegangen wären und andere nicht für Gore oder Bush, sondern für einen der anderen sieben Kandidaten gestimmt hätten, die damals in Florida auf dem Wahlzettel standen.

Sie merken, die Geschichte ist kompliziert. Zumindest komplizierter als man sie gemeinhin erzählt. Aber es wird noch ein bisschen vertrackter, denn Hall verweist noch auf eine weitere Studie. (Simmons: One in Ten Thousand. Ralph Nader Takes on the Presidency). Simmons kommt darin zu dem Schluss, dass, wenn Nader nicht angetreten wäre, Gore nicht genug profitiert hätte, um Florida und damit die gesamte Wahl zu gewinnen.

Im Gegenteil. Laut Simmons’ Untersuchung, die auf umfangreichen Datenanalysen basiert, hat Naders Kandidatur nicht zu Stimmenverlusten bei Gore geführt, sondern dazu, dass viele Wähler überhaupt erst mobilisiert worden sind, von denen einige Gore ihre Stimme gegeben haben. Anders ausgedrückt: Gore hat durch Naders Kandidatur Stimmen gewonnen, nicht welche verloren.

Und zwar nicht nur in Florida, sondern auch anderswo. Generell gesagt: Ohne Nader hätte Gore noch weniger Wählermännerstimmen bekommen und noch deutlicher gegen Bush verloren. Nach Ansicht von Simmons hätte Gore ohne Naders Kandidatur auch New Mexico und Wisconsin verloren, zwei Bundesstaaten, die er hauchdünn vor Bush gewann.

Hall belässt es bei diesen Daten und geht in seinen folgenden Ausführungen noch auf einen eher qualitativen Punkt ein. Dadurch, dass Nader mit im Rennen war, hat sich nämlich auch die Perspektive auf Gore verändert. Soll heißen: der linke Nader hat den nicht ganz so linken Gore in der Wahrnehmung der Wähler ein wenig in die Mitte geschoben.

Gore erschien damit ein wenig zentristischer und hat diese Rolle auch angenommen, was zugleich den republikanischen Versuch erschwert hat, aus Gore eine Linksextremisten zu machen. Für viele Unabhängige wurde Gore damit zu einer Option. Schätzungen gehen davon aus, dass Gore allein in Florida dadurch 100.000 Stimmen gewonnen hat – wohlgemerkt wegen, nicht trotz Naders Kandidatur.

Im gesamten Land könnte die politische Perspektivenverschiebung Gore fünf bis zehn Millionen Stimmen gebracht haben, und auch wenn diese Schätzungen sehr hoch scheinen, so sind sie – angesichts der aktuell wenig erfolgreichen Versuche der Republikaner, Biden zum Sozialisten zu machen – gewiss nicht aus der Luft gegriffen.

Kurzum: Die vermeintliche Tatsache, dass der grüne Nader dem Demokraten Gore anno 2000 die entscheidenden Stimmen weggenommen und damit George Bush zum Sieg verholfen hat, ist tatsächlich eher ein Meinen als ein gesicherter Fakt. Es gibt jedenfalls genug Daten, die für das Gegenteil sprechen.

Man könnte das alles als Schnee von gestern abtun, als antiquarische Anekdoten aus dem historischen Möglichkeitsraum, aber in diesem Fall hat das Insistieren auf der Geschichte ausnahmsweise mal seinen Sinn. Weniger für die Kandidaten, die mir ohnehin fern sind, als vielmehr für jene, die über sie schreiben, denn die sind mir näher.

Das heißt, sie könnten es sein. Denn was beim Blick in die Historie klar wird, ist, wie komplex Wahlentscheidungen sind und wie sich die Positionen von und die Sichtweise auf Kandidaten verschieben, wenn eine zusätzliche Variable im Spiel ist. Ganz zu schweigen von 1.225…

Aufs Hier und Heute bezogen heißt das: Die Dynamik dieser Wahl ist viel größer als es die Konzentration auf Trump und Biden wahrhaben will, ja auch nur wahrhaben kann. Aber selbst wenn man’s dabei belässt: Die Fokussierung auf das, was beide sagen und meinen, bekommt die perspektivische Breite der Realität nicht in den Blick. Das hermeneutische Heureka hat ausgedient. Um diese Wahl zu verstehen, muss man ihre Wahrheitsspiele analysieren und die Geschichte – vorwärts gedacht – als Rezeptionsgeschichte der Gegenwart ausformulieren.

Aber das wird – wenn überhaupt – erst viel später geschehen…

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

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