KommentarZwei Tage vor dem Treffen der Ministerpräsident/-innen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zeichnet sich leider das gleiche Szenario ab wie im Oktober: Der seit dem 2. November 2020 verfügte Lockdown soll bis 20. Dezember 2020 verlängert werden. Damit bleiben kulturelle Veranstaltungen, der Freizeitbereich, Gastronomie und Tourismus geschlossen bzw. verboten.
Zusätzlich sollen die Regelungen für Kontakte im privaten Bereich verschärft werden. Gleichzeitig benennt Finanzminister Olaf Scholz wieder eine Milliardensumme, mit der die betroffenen Unternehmen und Betriebe finanziell entschädigt werden sollen. Woher das Geld kommt, bleibt völlig offen.
Im Hintergrund wird jeden Tag der Silberstreif am Pandemiehorizont aufpoliert: Der Impfstoff kommt bald. Doch ist das alles nicht mehr als kurzsichtig? Wieder werden alle wie das Kaninchen auf die Schlange auf den 20. Dezember 2020 starren und unentwegt die Frage medial und im gesellschaftlichen Diskurs ventilieren: Was dann? Werden wir (und wie) Weihnachten und Silvester feiern können? Als ob das im Kampf gegen das Coronavirus eine besonders wichtige Frage wäre!
Darum zur Beruhigung für alle: Weihnachten findet wie vor 2020 Jahren völlig unabhängig von irgendwelchen Beschlüssen und Verfügungen statt – notfalls so einsam und verlassen wie in Bethlehem. Auch die Steuergesetzgebung von Kaiser Augustus konnte an der Geburt Jesu nichts ändern. Genauso wird es den Jahreswechsel – vorausgesetzt unsere Erde existiert noch – auch geben.
Leider ändert das aber nichts an der Ideenlosigkeit der voraussichtlichen Beschlüssen am kommenden Mittwoch. Nach dem Verlauf der vergangenen Monate und dem sich jetzt abzeichnenden Infektionsverlauf wäre es an der Zeit, zu Regelungen zu kommen, die mindestens bis Ostern eingehalten werden können und die – was noch wichtiger ist – auch Akzeptanz in großen Teilen der Bevölkerung finden.
Darum wäre es mehr als angebracht und angesichts der Zahlen auch zu verantworten, die Bereiche, die längst Hygienekonzepte erstellt und die bisherigen Regeln erfolgreich umgesetzt haben, nach entsprechender und nochmaliger Kontrolle zu öffnen: vor allem die Veranstaltungsräume und Restaurants, um Kultur und Kommunikation (Theater, Museum, Kino, Konzerte, Vorträge) zu ermöglichen.
Die Gottesdienste, die unter Beachtung der Auflagen stattfinden können und in denen konzertante Musik aufgeführt wird und kulturelle Beiträge integriert sind, haben gezeigt, dass dies möglich und verantwortbar ist. Schließlich finden dort Kontakte nur auf Abstand statt, können nachverfolgt werden und sind weitaus „ungefährlicher“ als in jedem Supermarkt oder Straßenbahn.
Völlig abwegig und weltfremd aber ist es, nun Kontaktregelungen zu treffen wie die von Bundeskanzlerin Merkel schon vor einer Woche angekündigten: Kinder sollen außerhalb von Schule und Kita nur mit einem weiteren und immer demselben Kind Kontakt haben (haben aber in teilweise überfüllten Bussen, Straßenbahnen und natürlich in Kitas und Schulen sehr engen Kontakt zu anderen); private Treffen dürfen nur noch mit maximal fünf Personen aus zwei Haushalten stattfinden.
Wer soll, wer will das kontrollieren? Wer will diese Grundrechtseinschränkung rechtfertigen? Es ist absehbar: Das wird von kaum jemandem akzeptiert werden, weil die ganzen Widersprüche nicht mehr nachvollziehbar sind – mit der fatalen Folge, dass von dieser Nichtakzeptanz auch sinnvolle Regeln und Verbote betroffen sein werden.
Hinzu kommt, dass die Privatsphäre eines jeden von uns ausspioniert werden müsste. Wer für einen solch gefährlichen Unsinn einen Türspalt öffnet, der wird sich verantwortlich machen müssen für ein doppeltes Infektionsgeschehen: Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und Steigerung der tatsächlichen Infektionszahlen.
Darum muss jetzt die Forderung sein: Neben dem R-Wert, dem Inzidenz-Wert, den Infektionszahlen, dem wichtigen und entscheidenden Kriterium, dass das Gesundheitswesen angesichts der am Coronavirus Erkrankten nicht kollabieren darf, müssen das Grundrecht auf Unverletzbarkeit der Privatsphäre und die gesellschaftliche Akzeptanz von Regelungen ein wesentliches Kriterium für politische Entscheidungen sein. Denn ohne Akzeptanz wird keine noch so sinnvolle Maßnahme greifen.
Noch ist Zeit, dass sich die Runde der Ministerpräsident/-innen vor schwerwiegenden politischen Fehlentscheidungen bewahrt. Noch ist Zeit, endlich längerfristig wirkende Maßnahmen in Gang zu setzen. Noch ist Zeit zu beweisen, dass auch Regierungspolitiker/-innen wie wir alle in dieser Pandemie Lernprozesse durchmachen und diesen Rechnung tragen.
Gastkommentar von Christian Wolff: Der schwarze Tag von Leipzig – eine Nachlese mit guten Aussichten
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Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit
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